Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
1
Ahmed betrachtet die Wolken am Himmel. Dahinziehende Wolken. Schöne Wolken.
Heute hat er das Haus nicht verlassen. Er hat noch ein Baguette, eine Packung Schinkentortellini und eine Lachs-Spinat-Quiche in der Tiefkühltruhe, es ist noch ausreichend Butter für drei Sandwichs da und ein Rest selbst gemachte Erdbeermarmelade von seiner Nachbarin Laura, die über ihm wohnt. Vielleicht würde er Laura sogar begehren, wenn er noch wüsste, wie man das macht. Im Kühlschrank stehen sechs Flaschen Evian, und im Küchenschrank befinden sich neben einer Tafel dunkler Nussschokolade noch fünf Flaschen Tsingtao-Bier, eine halbe Flasche Whisky, drei Flaschen Wein und sechs Dosen alkoholfreies Bier, die sein Cousin Mohamed bei seiner Abreise nach Bordeaux vor acht Monaten hier vergessen hat. Außerdem hat er noch ein Paket Tuc-Kräcker, eine halbe Salami, einen drei viertel Valançay-Käse, einen halben Liter Milch und einen kümmerlichen Rest Müsli. Tee und Kaffee reichen auch noch. Ahmed kann sich also getrost den drei Komma sieben Kilo Büchern widmen, die er am Vortag bei Monsieur Paul gekauft hat.
Er kauft seine Bücher antiquarisch in diesem winzigen, altmodischen Laden in der Rue Petit. Monsieur Paul verkauft seine Bücher nach Gewicht, und manchmal legt er wortlos noch einen zusätzlichen Titel auf Ahmeds Stapel. Werke von Ellroy, Tosches und Manchette. Dann zwinkert Ahmed Monsieur Paul zu, dankbar, dass der Buchhändler ihn vor dem endgültigen Absturz bewahrt. Diese Autoren werden ihm im Gedächtnis bleiben.
Ahmed liebt Gedichte. Leider kennt er nur Bruchstücke auswendig, die von Zeit zu Zeit wie Blasen in seiner Seele aufsteigen. Oft sind es nur einzelne Verse, ohne Autor und ohne Titel. Eine Zeit lang hatte er Baudelaire sehr gern gemocht, aber das hatte sich geändert, und dann hatte er schließlich ganz mit dem Lesen aufgehört. Na ja, jedenfalls beinahe. Heute kauft er sich Le Parisien , wenn er morgens mal das Haus verlässt. Und jede Menge Krimis. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, verwechselt er oft die Namen der Autoren, weil er häufig das Gefühl hat, immer das Gleiche zu lesen. Aber genau das ist es, was er will. Sich vergessen. Sich in der Ganzheit der Welt verlieren. In etwas abtauchen, das von anderen geschrieben wurde. Er weiß, dass die Bücher seinen Geist kolonialisieren, aber noch braucht er sie. Noch schafft er es nicht, sich ganz allein seinen Dämonen zu stellen. Das Grausen und die manchmal krankhafte Phantasie anderer Menschen helfen ihm, die Ungeheuer zu kontrollieren, die sich irgendwo in seinem Schädel verstecken.
Er liest wirklich viel. Überall an den Wänden seiner Wohnung lagern gelesene Romane. Ahmed besitzt kein Regal. Er stapelt die Bücher. Je mehr er liest, desto enger wird es. Er hat nachgerechnet: Es sind zweieinhalb Tonnen Krimis, alle bei Monsieur Paul erworben. Bei fünf Tonnen will er aufhören. Nach seinen Berechnungen bleibt dann nur noch Platz für den Weg von der Eingangstür bis zu seiner Matratze. An jenem Tag will er die Tür hinter sich schließen, den Schlüssel im Briefkasten deponieren und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Heute Nachmittag aber träumt er. Er betrachtet die wunderschönen Wolken und träumt. Im Geiste verlässt er das Viertel La Villette, in dem er nun schon seit fünf Jahren nicht mehr wirklich lebt. Er spürt, wie er sich langsam löst und davonschwebt.
Mit einem Mal fühlt er einen Tropfen auf seinem himmelwärts gerichteten Gesicht. Ein zweiter fällt auf den sauberen Ärmel seiner Galabija, die sein Cousin Mohamed ihm geschenkt hat. Ahmed senkt den Blick und beobachtet den roten Fleck, der sich auf der weißen Baumwolle des Gewandes ausbreitet. Das ist kein Regen. Der dritte Tropfen zerplatzt auf seiner Nasenspitze. Er kostet ihn: Es ist Blut. Furchtsam blickt er nach oben, als wüsste er, was ihn erwartet. Zwei Meter über ihm hängt in einem merkwürdigen Winkel ein regloser Fuß mit einem geometrischen Tattoo am Knöchel. Am großen Zeh bildet sich ein weiterer Tropfen, der Ahmed auf die Stirn zu fallen droht. Er weicht zurück. Der Tropfen fällt auf die weiße Lilie, die einzige Blume auf seinem Balkon. Lauras Blut hinterlässt eine Spur auf der makellosen Blüte. Und Ahmed kehrt in die Welt zurück. Er blickt auf die Wanduhr, ein rundes, grünes Zifferblatt, auf dem lediglich die Zahl Vier steht. Einundzwanzig Uhr fünfzehn. Die Traumreise war offensichtlich lang.
Der merkwürdige Winkel des Fußes verrät ihm, dass Laura
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