Hueter der Erinnerung
dann ein kleineres Kind. Du solltest dich allmählich daran gewöhnen, ohne es einzuschlafen.«
Doch Vater war bereits an das Regal gegangen und holte den Stoffelefanten herunter, der dort aufbewahrt wurde. Die meisten
Kuschelobjekte waren, wie das von Lily, ausgestopfte Fantasiegestalten. Jonas’ Kuschelobjekt hatte Bär geheißen.
»Hier ist dein Kuschelobjekt, Lily-Billy«, sagte Vater. »Ich komme gleich mit und helfe dir, die Bänder aus den Haaren zu
nehmen.«
Jonas und seine Mutter verdrehten die Augen, aber sie sahen Vater und Lily liebevoll nach, als die beiden mit dem Stoffelefanten,
den Lily nach ihrer Geburt als Kuschelobjekt bekommen hatte, in Lilys Zimmer gingen. Dann stand Mutter auf, ging an ihren
großen Schreibtisch und öffnete ihr Aktenköfferchen. Ihre Arbeit schien nie ein Ende zu nehmen, selbst abends nicht.
Jonas ging an seinen eigenen Schreibtisch und begann, seine Schulaufgaben zu machen. In Gedanken weilte er jedoch immer noch
im Dezember bei der Zwölfer-Zeremonie.
Obwohl das Gespräch mit seinen Eltern ihn etwas beruhigt hatte, hatte er noch immer nicht die leiseste Ahnung, welche Aufgabe
ihm die Ältesten für seine Zukunft zuteilen würden oder wie er sich fühlen würde, wenn es so weit war.
3
»Oh, schau nur!«, rief Lily entzückt. »Ist er nicht süß? Schau bloß, wie winzig er ist! Und er hat genauso merkwürdige Augen wie du, Jonas!«
Jonas bedachte seine Schwester mit einem finsteren Blick. Es gefiel ihm nicht, dass sie seine Augen erwähnte. Er wartete darauf,
dass Vater Lily zurechtweisen würde, aber das tat er nicht, denn er war damit beschäftigt, die Gurte des Kindersitzes hinten
auf seinem Rad zu lösen. Jonas kam neugierig näher.
Es war das Erste, was Jonas auffiel, als er den Säugling sah, der interessiert aus seinem Körbchen lugte – die hellen Augen.
Fast alle Bürger der Gemeinschaft hatten dunkle Augen. Seine Eltern, Lily und alle seine Klassenkameraden und Freunde. Aber
es gab ein paar Ausnahmen: Jonas selbst und ein Fünfer-Mädchen, das ihm aufgefallen war, hatten diese seltsamen, helleren
Augen. Niemand erwähnte solche Dinge. Es gab zwar keine Regel, die das verbot, aber es galt als ungezogen, die Aufmerksamkeit
auf etwas zu lenken, das ein Individuum von den anderen unterschied. Das würde Lily bald lernen müssen, dachte Jonas, sonst
würde sie wegen ihres unbedachten Geplappers zurechtgewiesen werden.
Vater stellte sein Fahrrad in den Ständer. Dannnahm er das Babykörbchen und trug es ins Haus. Bevor Lily ihm folgte, warf sie noch schnell einen Blick über die Schulter
auf Jonas und sagte spöttisch: »Vielleicht hatte er dieselbe Gebärerin wie du.«
Jonas zuckte gleichgültig mit den Schultern, ehe auch er ins Haus ging. Über diese Dinge hatte er sich noch nie Gedanken gemacht,
denn auch Spiegel gab es nur wenige in der Gemeinschaft. Sie waren zwar nicht verboten, aber sie waren auch nicht unbedingt
nötig und Jonas hatte sich einfach nie die Mühe gemacht, sich ausgiebig zu betrachten, wenn er zufällig einmal in der Nähe
eines Spiegels gewesen war.
Doch nun, nachdem er den Säugling und dessen Gesicht gesehen hatte, fiel ihm auf, dass helle Augen nicht nur eine Seltenheit
waren, sondern einem auch ein gewisses Aussehen gaben – was war es?
Tiefe
, entschied er. Es war, als schaue man in das klare Wasser des Flusses, bis hinunter auf den Grund, wo bisher unentdeckte
Dinge schlummerten.
Es machte ihn verlegen, sich vorzustellen, dass auch er solche Augen hatte.
Er ging an seinen Schreibtisch und tat so, als würde er sich nicht besonders für den Säugling interessieren. Auf der anderen
Seite des Raums standen Mutter und Lily über das Kind gebeugt, das Vater gerade aus seiner Decke schälte.
»Wie heißt sein Kuschelobjekt?«, fragte Lily neugierig, als sie das seltsame Stoffwesen in die Hand nahm, das neben dem Säugling
im Körbchen lag.
Vater warf einen Blick darauf. »Nilpferd«, sagte er.
Über dieses komische Wort musste Lily kichern. »Nilpferd«, wiederholte sie und legte es zurück. Sie betrachtete den nunmehr
ausgepackten Säugling, der mit den Ärmchen fuchtelte.
»Ich finde Säuglinge richtig süß«, erklärte Lily mit einem verklärten Lächeln. »Ich hoffe, ich werde zur Gebärerin ernannt.«
»Aber Lily!« Mutter wies sie in strengem Ton zurecht. »Sag so etwas nicht! Das ist keine sehr ehrenvolle Aufgabe.«
»Aber ich habe neulich mit Natascha gesprochen, die gleich
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