Hueter der Erinnerung
immer fünfzig Kinder pro Gruppe, falls keines freigegeben worden
war – von den Pflegern, die sie seit ihrer Geburt betreut hatten, auf die Bühne gebracht. Manche, die bereits gehen konnten,
tapsten unsicher auf ihren stämmigen Beinchen herein. Andere waren erst wenige Wochen oder Monate alt und wurden,in Decken gewickelt, von ihren Pflegern hereingetragen.
»Mir gefällt die Namensgebung«, sagte Jonas.
Seine Mutter nickte lächelnd. »In dem Jahr, als wir Lily bekamen, wussten wir natürlich, dass wir unser Mädchen bekommen würden,
denn wir hatten einen Antrag gestellt, der genehmigt worden war. Aber ich habe mich ständig gefragt, wie es wohl heißen würde.«
»Ich hätte vor der Zeremonie heimlich einen Blick auf die Liste werfen können«, gestand Vater. »Das Komitee erstellt immer
im Voraus eine Liste, die dann ein paar Tage im Büro des Säuglingszentrums liegt. Ich muss euch jetzt etwas gestehen«, fuhr
er fort, »ich habe zwar ein etwas schlechtes Gewissen, aber heute Nachmittag bin ich tatsächlich ins Büro gegangen, um zu
sehen, ob die neue Liste bereits vorliegt. Sie liegt auch schon da und ich sah schnell nach Nummer sechsunddreißig – das ist
der kleine Kerl, der mir Sorgen macht –, denn mir kam der Gedanke, dass es vielleicht gut für ihn wäre, wenn ich ihn bei seinem Namen nennen würde. Natürlich nur,
wenn niemand in der Nähe ist.«
»Hast du den Namen entdeckt?«, fragte Jonas ganz fasziniert.
Es war zwar keine schrecklich bedeutende Regel, aber die Tatsache, dass sein Vater gegen eine Regel verstoßen hatte, überraschte
ihn. Er warf einen raschen Blick auf seine Mutter, die für die Einhaltungder Regeln zuständig war, und sah zu seiner Erleichterung, dass sie schmunzelte.
Sein Vater nickte.
»Er wird – falls er nicht vorher freigegeben wird – Gabriel heißen. Diesen Namen werde ich ihm jetzt zuflüstern, wenn ich
ihn alle vier Stunden füttere und während der Gymnastik und beim Spielen. Wenn mich niemand hören kann. Eigentlich nenne ich
ihn Eli«, gestand er mit einem schelmischen Grinsen.
»Eli«, wiederholte Jonas versuchsweise. Ein schöner Name, wie er fand.
Obwohl Jonas erst ein Fünfer gewesen war, als sie Lily zugeteilt bekommen und ihren Namen erfahren hatten, erinnerte er sich
noch gut an die Aufregung und die langen Gespräche, in denen es um das erwartete Mädchen ging: wie es aussehen und sein und
wie es sich in ihre Familie einfügen würde. Er erinnerte sich auch daran, wie er mit seinen Eltern die Stufen zur Bühne hochgeklettert
war. In jenem Jahr war Vater bei ihnen und nicht bei den Pflegern gewesen, weil er ja selbst ein neues Kind zugeteilt bekommen
hatte.
Er erinnerte sich, wie Mutter das Kind, seine neue Schwester, in die Arme genommen hatte, während der Namensgeber den versammelten
Mitgliedern der Gemeinschaft vorgelesen hatte: »Kind Nummer dreiundzwanzig: Lily.«
Er erinnerte sich noch gut, wie Vater sich gefreutund ihm zugeflüstert hatte: »Sie ist einer meiner Lieblinge. Ich hatte gehofft, dass sie es sein würde.«
Die Menschenmenge hatte applaudiert und Jonas hatte vor Freude gestrahlt. Ihm gefiel der Name seiner neuen Schwester. Lily
ballte im Halbschlaf ihre kleinen Fäuste. Dann gingen sie wieder von der Bühne, um dem nächsten Elternpaar Platz zu machen.
»Als ich wie du ein Elfer war«, sagte sein Vater nun, »konnte ich die Zwölfer-Zeremonie kaum erwarten. Es waren zwei harte
Tage. Ich weiß noch, dass mir die Einser-Zeremonie gefiel, wie immer, aber bei den anderen Zeremonien passte ich kaum auf,
außer bei der meiner Schwester. Sie wurde ein Neuner damals und bekam ihr Fahrrad. Ich hatte ihr das Fahren auf meinem Rad
bereits beigebracht, obwohl das eigentlich nicht erlaubt ist.«
Jonas lachte. Das war eine der wenigen Regeln, die nicht sehr ernst genommen und fast immer gebrochen wurden. Erst als Neuner
bekamen die Kinder ihre Fahrräder. Vorher durften sie nicht fahren. Aber fast immer brachten der ältere Bruder, die ältere
Schwester oder ältere Freunde es ihnen vorher heimlich bei. Auch Jonas hatte sich bereits überlegt, wann er Lily zum ersten
Mal auf seinem Rad fahren lassen würde.
Es war im Gespräch, diese Regel abzuändern und die Fahrräder in einem früheren Alter zuzuteilen. Ein Komitee beriet über diesen
Vorschlag. Wenn einKomitee über einen Vorschlag beriet, machten die Leute immer ihre Witze darüber. Sie behaupteten, dass die Mitglieder des
Weitere Kostenlose Bücher