Hueter der Erinnerung
seinen Vorstellungen. Körperliche Arbeiten lagen ihm
auch nicht.
Sein Vater überlegte. »Nein, ich glaube nicht. Die Ältesten treffen ihre Entscheidungen erst nach langer Beobachtung und reiflicher
Überlegung.«
»Ich finde, dass deine Arbeit wahrscheinlich die wichtigste in unserer Gemeinschaft ist«, sagte Mutter.
»Meine Freundin Yoshiko war überrascht über ihre Bestimmung zur Ärztin«, sagte Vater, »aber sie war begeistert. Und, lass
mich überlegen, da war noch Andrei. Ich erinnere mich, dass er, als wir noch Kinder waren, eine Abneigung gegen körperliche
Betätigungen hatte. Er verbrachte seine ganze Freizeit mit seinem Baukasten und seine Praktikumsstunden verbrachte er immer
dort, wo etwas gebaut wurde. Das wussten die Ältesten natürlich. Andrei durfte Ingenieur werden und er war überglücklich.«
»Später hat Andrei die Brücke entworfen, die im Westen der Stadt über den Fluss führt«, ergänzteJonas’ Mutter. »Als wir klein waren, gab es sie noch nicht.«
»Es kommt sehr selten vor, dass jemand enttäuscht ist, Jonas. Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst«, versicherte
ihm sein Vater. »Und falls doch, gibt es immer noch die Möglichkeit, Einspruch zu erheben.« Über diese Bemerkung lachten alle,
denn ein Einspruch würde einem Komitee zur Überprüfung vorgelegt werden.
»Ashers Bestimmung macht mir etwas Kopfzerbrechen«, gab Jonas zu. »Er ist ein richtiger Kindskopf. Aber er hat keine ernsthaften
Interessen. Für ihn ist alles ein Spiel.«
Sein Vater schmunzelte. »Oh, ich erinnere mich noch gut an Asher als Säugling bei uns im Zentrum, als er noch keinen Namen
hatte. Er weinte nie. Ständig kicherte und lachte er. Das Personal hat sich darum gerissen, ihn füttern zu dürfen.«
»Die Ältesten kennen Asher«, sagte Mutter. »Sie werden ihm die richtige Aufgabe zuteilen. Ich glaube nicht, dass du dir seinetwegen
Sorgen machen musst. Aber, Jonas, ich muss dir etwas sagen, was dir vielleicht noch gar nicht in den Sinn gekommen ist. Ich
weiß noch, dass es mir erst nach meiner Zwölfer-Zeremonie klar geworden ist.«
»Was?«
»Nun, wie du weißt, wird es deine letzte Zeremonie sein. Nach zwölf ist das Alter nicht mehr wichtig. Mit den Jahren vergessen
die meisten von uns,wie alt sie inzwischen sind, obwohl wir es natürlich im Saal der offenen Bücher nachschauen könnten, wenn wir das wollten.
Was wichtig ist, ist die Vorbereitung auf das Erwachsenenleben und die Ausbildung, die dir für deinen späteren Beruf zuteilwird.«
»Ich weiß«, sagte Jonas. »Das weiß jeder.«
»Aber es bedeutet«, fuhr seine Mutter fort, »dass du in eine neue Gruppe kommst. Das gilt auch für deine Freunde. Du wirst
deine Zeit nicht mehr mit den jetzigen Elfern verbringen. Nach der Zwölfer-Zeremonie wirst du in eine neue Gruppe kommen,
zu denen, die dieselbe Ausbildung erhalten. Es gibt keine Praktikumsstunden mehr, keine Spielstunden. Deshalb wirst du deine
bisherigen Freunde etwas aus den Augen verlieren.«
Jonas schüttelte den Kopf. »Asher und ich werden Freunde bleiben«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Außerdem gibt es
ja noch die Schule.«
»Das stimmt natürlich«, bestätigte sein Vater. »Aber auch das, was deine Mutter sagte, trifft zu. Manches wird sich ändern.«
»Allerdings zum Guten«, bestätigte Mutter. »Nach der Zwölfer-Zeremonie habe ich anfangs die Spielstunden vermisst. Doch als
ich dann meine Studien der Rechtswissenschaft aufnahm, kam ich mit Menschen zusammen, die meine Interessen teilten. Ich schloss
Freundschaften auf einer neuen Ebene, fand Freunde in jedem Alter.«
»Hast du nach zwölf überhaupt nicht mehr gespielt?«, fragte Jonas.
»Gelegentlich«, antwortete seine Mutter. »Aber es war mir nicht mehr so wichtig.«
»Mir schon«, erklärte sein Vater lachend. »Mir ist es heute noch sehr wichtig. Jeden Tag, im Säuglingszentrum, spiele ich
– Hoppe, hoppe, Reiter, Armkitzeln und so fort.« Er streckte den Arm aus und strich Jonas über das kurz geschnittene Haar.
»Man kann auch mit zwölf und danach noch Spaß haben.«
Lily erschien in ihrem Nachthemd im Türrahmen und seufzte ungeduldig. »Das ist aber ein langes vertrauliches Gespräch«, sagte
sie vorwurfsvoll. »Es gibt gewisse Leute, die auf ihr Kuschelobjekt warten.«
»Lily«, sagte Mutter in zärtlichem Ton, »du bist fast schon ein Achter und bald hast du ohnehin keinen Anspruch mehr auf dein
Kuschelobjekt. Das bekommt
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