Hüter der Flamme 04 - Der Erbe der Macht
eisenbeschlagenen Rädern einen Arm, den Brustkasten und die Wirbelsäule zermalmt hatte.
Doria nickte. »Unsere Pflicht ist es zu heilen«, nickte sie und legte ihre Hände auf den Patienten.
Der Schaden war beträchtlich, aber wiedergutzumachen.
Das Wichtigste war gewesen, den brüllenden Mann am Leben zu erhalten und seine Schmerzen zu lindern. Elmina hatte beides vollbracht. Jetzt war der Mann bewußtlos, aber außer Lebensgefahr. Das Blut, das sich in dem zertrümmerten Brustkorb gesammelt hatte, gerann weder, noch strömte es unwiederbringlich davon.
»Doria ...«
»Ich weiß. Psst, Elmina, sei jetzt still.«
Doria befeuchtete einmal ihre Lippen und tastete in ihrem Bewußtsein und ihrer Seele nach dem Zauberspruch. Es war nicht so, daß sie sich der Wort bemächtigte, sie lieh nur ihre Stimme dem Fluß der Silben und der Macht. Und wie immer wußte sie nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob der warme Schimmer, der den Verletzten umgab, in der Luft entstand, in ihren Augen oder in ihrem Kopf.
Doch wie immer wärmte er sie und heilte ihn.
Gebrochene und gesplitterte Knochen verschmolzen, zerquetschte Muskeln, gerissene Sehnen bildeten sich langsam zu früherer Unversehrtheit zurück, Nervenstränge und Blutgefäße schlängelten sich an ihren angestammten Platz, wo sie sich zusammenfügten, als wäre nichts geschehen.
Zuletzt kam das Blut an die Reihe. Beschädigte rote Blutkörperchen und - schlimmer, schwieriger, anstrengender - zerfallene Blutplättchen bauten sich auf, sickerten durch Kapillarwände und verharrten in Venen und Arterien, ein unübersehbares Heer von Soldaten, die nur auf den Marschbefehl warteten.
Der Befehl wurde erteilt: Das Blut begann zu fließen, und der Heilungsprozeß schritt voran, bis die erschreckende Totenblässe aus dem Gesicht des Mannes wich und sein Bewußtsein allmählich zurückkehrte.
»Sehr schön gemacht, Doria«, meinte Elmina. Sie legte einen Finger auf die schrundigen Lippen des Bauern, die immer noch mit eingetrocknetem Blut und Erbrochenem befleckt waren. »Sei still, Freund. Du befindest dich in der Obhut der Hand, und alles wird gut.«
Sie wandte sich an Doria.
»Auch für dich wird alles gut werden, Schwester, auf die eine oder andere Weise.«
Doria nickte. Was die Matriarchin als ihr ›Gefühl für die Entwicklung der Dinge‹ bezeichnete, nahm täglich an Stärke zu. Früher oder später stand ihr eine Konfrontation bevor. Mindestens eine.
Außerdem gab es noch die Erinnerung an die Worte, die die Matriarchin zu Karl gesprochen hatte:
Die Hand wird euch nie wieder helfen, hatte sie gesagt. Die Hand wir euch nie wieder helfen.
»Ich verstehe.« Elmina nickte. »Doch vorläufig müssen wir ...« Sie stockte und schwankte einen Augenblick, dann straffte sie sich, und ihre durchscheinend blasse Haut bekam etwas Farbe. »Vorläufig müssen wir zurückgewinnen, was wir an Macht ausgegeben haben. Alle beide. Und das werden wir auch weiterhin tun, aber vielleicht, eines Tages, aus verschiedenen Gründen - ist es nicht so?«
Doria nickte. »So ist es.«
Einige Zehntage zuvor, am Eingang der Alten Höhlen: Ahira und Walter Slowotski
»Ich mache mir Sorgen um Karl«, sagte Ahira, der sich in seinem Schaukelstuhl räkelte und in die untergehende Sonne blinzelte.
»Du machst dir zuviel Sorgen. Arbeite mehr; sorge dich weniger.« Slowotski runzelte die Stirn, als der Zwerg Karls letzten Brief zur Hand nahm. Wieder einmal.
Zwar mangelte es nicht an Gründen, sich Sorgen zu machen.
Zum Beispiel war Ahira vor kurzem aufgefallen, daß Walter Slowotskis Tochter Janie sich mit Riesenschritten dem heiratsfähigen Alter näherte, dabei gab es weit und breit keinen Bräutigam der richtigen Spezies.
Ahira kicherte in sich hinein. Es macht mir nichts aus, ein Zwerg zu sein, aber ich möchte nicht, daß meine Patentochter einen heiratet.
»Du machst dir zuviel Sorgen«, wiederholte der große Mann und schnitzte weiter an einem Stück Kiefernholz, während sie nebeneinander vor dem Tor zu den Alten Endellhöhlen saßen und auf den Einbruch der Nacht warteten. »Besonders gegen Ende des Tages. Ich dachte, du wärst ein Zwerg, nicht ein Mensch. Zwerge lieben angeblich die Dämmerung.«
»Da ist was Wahres dran«, bestätigte Ahira. Der Abend war die beste Zeit des Tages, wenn Mühe und Ärger des Tages von der heraufziehenden Nacht getilgt wurden.
Meistens wenigstens. Das war Slowotskis Fehler; zwar versuchte er sich anzupassen, doch mangelte ihm das Gefühl eines
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