Hüter der Macht
warten müssen!«
Tessa erschrak. Die Stimme der jungen Frau im Zimmer klang scharf und keifend.
»Nun denn, hier ist sie.« Gemma zog Tessa am Arm ins Zimmer. Dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Tessa blieb an der Tür stehen. Ihr Herz klopfte wild.
In einem gepolsterten Armstuhl saß ein Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren mit rundlichem, pausbäckigem Gesicht und lockigen dunkelblonden Haaren. Sie trug ein faltenreiches und mit seidenen Bändern verziertes Kleid aus einem glänzenden blassrosafarbenen Stoff.
»So, du bist also mein Geburtstagsgeschenk!« Sie zog die dünnen Augenbrauen hoch, als wüsste sie nicht recht, ob es ihr auch gefiel.
»Wenn Ihr es sagt, wird es wohl so sein«, brachte Tessa mühsam hervor.
»Und ob es so ist! Oder zweifelst du vielleicht an meinen Worten?«, fuhr Fiametta sie ungehalten an.
»Nein! Natürlich nicht!«, beteuerte Tessa hastig. »Wie käme ich dazu, an Euren Worten zu zweifeln? Ich …«
»Schon gut!«, fiel Fiametta ihr ins Wort. »Du hast nur dann zu reden, wenn ich dich etwas frage. Und jetzt komm näher und sag mir, wie du heißt.«
Tessa machte ein paar vorsichtige Schritte ins Zimmer hinein. »Tessa … Tessa Brunetti.« Sie nannte den Namen, den man ihr in Venedig gegeben hatte. Ihren richtigen Namen kannte sie nicht, war sie doch schon im Alter von drei Jahren mit ihrer Mutter nach Venedig auf den Sklavenmarkt gebracht worden. Wäre ihre Mutter nicht zwei Jahre später an einem Fieber gestorben, hätte sie womöglich mehr über ihre Herkunft gewusst. Aber das gehörte zu den Träumen, denen sie besser nicht allzu lange nachhing.
»Und wie alt bist du?«
»Vierzehn.«
Fiametta stand auf und ging langsam um sie herum.
Tessa fühlte sich wie ein Pferd, das auf dem Viehmarkt zum Verkauf angeboten wird. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, nur ihre Blicke wanderten durchs Zimmer. Es war in mattes Kerzenlicht getaucht. Die schweren Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen. Zu ihrer Linken stand ein hohes Bett mit Baldachin, davor lag ein großer weicher Teppich mit einem bunten Muster aus Ranken, Blumen und Vögeln. Rechts von ihr entdeckte sie eine kunstfertig bemalte Truhe und daneben einen schmalen Tisch. Auf dessen blank polierter Platte standen zwei dreiarmige Kerzenleuchter und dazwischen ein runder Silberspiegel und zahllose kleine Fläschchen, Tiegel und Döschen. Darüber hing ein dreiteiliges Tafelbild, das die Muttergottes und mehrere Heilige zeigte.
»Mein Vater hat mir zu meinem sechzehnten Geburtstag eine eigene Zofe versprochen, weil ich es leid bin, immer die alte Gemma anbetteln zu müssen, dass sie mir beim Ankleiden, Lockenbrennen und Schminken zur Hand geht. Das wird ab jetzt deine Aufgabe sein.«
»Ich werde mich bemühen, Euch eine gute Zofe zu sein, junge Herrin.«
»Das will ich dir auch geraten haben!«, erwiderte Fiametta barsch. »Ich hoffe, du verstehst dich auf das Lockenbrennen und das Anrühren von Schminke.«
»Nein, das hat nicht zu meinen Aufgaben gehört«, sagte Tessa vorsichtig.
Fiametta stöhnte auf und verdrehte theatralisch die Augen. »Du bist mir ja ein schönes Geschenk!«, schimpfte sie. »Die alte Gemma soll dir alles so schnell wie möglich beibringen. Und wenn du dich zu dumm anstellst, lass ich dich von meinem Vater wieder verkaufen! Und jetzt geh mir aus den Augen! Ich werde nach dir rufen, wenn ich dich brauche!« Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und beachtete Tessa nicht weiter.
Als Tessa wieder draußen auf dem Säulenumgang stand, musste sie sich an der Wand festhalten, so sehr zitterten ihre Knie. Sie schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten.
4
E ine tiefe Stille umgab Sandro Fontana. Er war allein in der kleinen Kirche von San Piero a Sieve, einem größeren Dorf im hügeligen Mugello, das zu Fuß eine gute Tagesreise nördlich von Florenz lag. Die Abendmesse war zu Ende und die wenigen Gläubigen hatten die Kirche längst verlassen. Der Gestank von Viehdung, der an der Kleidung der Bauern haftete, hatte sich mit dem Weihrauch vermischt und lag schwer in der kalten Luft.
Sandro kniete vor dem Seitenaltar auf einem harten Betbrett und wagte kaum, den Blick zur allerheiligsten Jungfrau zu heben.
»Heilige und allzeit barmherzige Muttergottes, du weißt, wie es in mir aussieht.« Obwohl sich außer ihm niemand sonst in der Kirche aufhielt, war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Wie konnte ich nur in
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