Hüter der Macht
so etwas hineingeraten? Ich habe stets ein gottesfürchtiges Leben geführt … Auch wenn ich damals das Kloster verlassen habe und kein Mönch geworden bin. Sag mir, heilige Muttergottes, tue ich das Richtige? Gibt es vielleicht einen anderen Ausweg? Ausgerechnet er ist es! Immer muss ich daran denken, was meine Eltern mir erzählt haben … Fünf Goldflorin! Wenn ich mir vorstelle, was ich damit machen könnte … Nein, so darf ich nicht denken! Vergib mir, heilige Muttergottes …«
So kniete er noch lange vor dem Altar und versuchte, im Gebet eine Entscheidung zu treffen, was er tun sollte.
Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Erschrocken fuhr Sandro herum. Ricco stand hinter ihm und sah ihn argwöhnisch an. Stand er schon lange dort? Hatte er vielleicht mitgehört?
»Lass mich in Ruhe!«, sagte Sandro mürrisch.
»Kannst du mir mal verraten, was du hier treibst?«, fragte Ricco.
Rasch griff Sandro nach seiner Armbrust, die er neben sich auf den Steinboden gelegt hatte, und kam vom harten Betbrett hoch. »Ich habe gebetet. Weißt du überhaupt, was das ist?«, fragte er bissig zurück.
Ricco schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Natürlich! Jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich wieder! Das ist doch das langatmige Gebrabbel, mit dem die Pfaffen und die Kuttenträger den lieben langen Tag verbringen.« Er grinste breit. »Soll ich dir mal was verraten? In der Hölle geht es sowieso viel interessanter zu als im Himmel. Da trifft man nämlich alle wieder, die in ihrem Leben Geld und Macht besessen haben, verlass dich drauf, und die haben was Interessanteres zu erzählen als die Engel im Himmel! So, und jetzt lass uns gehen. Luca wartet drüben am Fluss bei der Mühle mit frischem Proviant. Es wird bald dunkel und wir müssen uns auf den Weg machen.«
Sandro nickte nur.
»Wenn alles nach Plan läuft, ist morgen unser großer Tag. Und dann wird Kasse gemacht!«
Ricco wandte sich um und ging durch das Kirchenschiff nach draußen.
Morgen schon. Doch Sandro zögerte nicht länger. All sein Zaudern und Zögern – das würde bald der Vergangenheit angehören. Seine Entscheidung stand fest.
Sandro Fontana wusste, er würde das Richtige tun.
Die vergangenen Tage hatten die drei Gefährten damit verbracht, sich mit dem Gelände rund um eines der größten Landgüter der Umgebung und mit den Gewohnheiten seiner Bewohner vertraut zu machen. Stundenlang hatten sie am Flusslauf, nahe den Weinbergen und bei den Olivenhainen sowie in sicherer Entfernung zu den Wirtschaftsgebäuden in den Büschen gelegen und sich alles genau eingeprägt. Sie hatten größte Vorsicht walten lassen, um dabei von niemandem bemerkt zu werden. Aus diesem Grund hatten sie ihr Nachtlager auch nicht in der Nähe des Landgutes aufgeschlagen, sondern in einem Wald südlich von San Piero a Sieve und damit zweieinhalb Stunden Fußmarsch entfernt.
Ricco hatte eine zweite Armbrust aufgetrieben und er, Sandro, hatte ihm beigebracht, wie man damit umging. Normalerweise gab es da nicht viel zu lernen, sofern man eine ruhige Hand und ein gutes Auge besaß. Etwas völlig anderes war es dagegen, die Waffe aus dem Hinterhalt auf einen ahnungslosen Menschen zu richten.
Als die beiden aus der Kirche traten, kam eine zerlumpte Bettlergestalt auf sie zu. Der Mann, der eine löchrige Kappe aus grobem grauen Tuch auf dem Kopf trug und nur ein paar Jahre älter sein konnte als Ricco, war von zwergenhaftem Wuchs. Er hatte ungewöhnlich kurze Beine, sodass es im ersten Augenblick aussah, als bewegte er sich auf Knien vorwärts. Und als hätte die Natur ihn nicht schon genug gestraft, spaltete auch noch eine breite Hasenscharte seine Oberlippe schräg unter der Nase.
»Habt Erbarmen mit einem armen Mann!« Unterwürfig streckte er ihnen mit schmutzigen Händen eine hölzerne Bettelschale entgegen, an deren Rand noch getrockneter Haferschleim klebte. Da sie beide eine Armbrust über der Schulter trugen, hielt er sie offenbar für Söldner oder Angehörige örtlicher Miliztruppen. Denn einige sehr reiche und mächtige Florentiner Großgrundbesitzer hielten sich solche privaten Milizen in politisch unsicheren Zeiten auf ihren Landgütern, um sie sofort zu ihrer Unterstützung in die Stadt rufen zu können, wenn es dort zu gewalttätigen Konflikten zwischen den verfeindeten Parteien kam.
»Aus dem Weg! Du stinkst wie eine wandelnde Latrine!«, fuhr Ricco ihn angewidert an und trat mit dem Stiefel nach ihm.
Der Bettler verlor das
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