Hüter der Macht
Gleichgewicht, stürzte die drei Stufen auf den Dorfplatz hinunter und blieb dort im Staub liegen.
»Warum hast du das getan?«, stieß Sandro wütend hervor.
»Blöde Frage! Weil dieser wandelnde Gossendreck stinkt, als wäre er aus einer Kloake gekrochen – und weil es mir so passt!«, antwortete Ricco nur.
Sandro erinnerte sich nur zu gut daran, wie oft er um Almosen gebettelt hatte und wie demütigend es jedes Mal gewesen war, wenn die Leute achtlos an ihm vorübergegangen waren. Ohne zu zögern, ging er zu dem Bettler und half ihm auf. Dann griff er in seine Tasche, holte zwei Piccioli hervor und drückte sie ihm in die Hand.
Der Bettler hielt ihn am Ärmel fest. »Gott beschütze Euch!«, stieß er dankbar hervor.
Sandro sah ihn gedankenverloren an, dann riss er sich los und beeilte sich, Ricco einzuholen, der kopfschüttelnd weitergegangen war.
»Bist du in der Kirche plötzlich zum Samariter geworden?«
»Nein.«
»Warum hast du dann zwei Piccioli an diese stinkende Lumpengestalt verschwendet?«
»Weil es mir so passt!«
5
E in schwacher Hauch der milden Morgenluft und erstes, munteres Vogelgezwitscher drangen durch das offene Fenster in das Arbeitszimmer von Cosimo de’ Medici. Noch war die nächtliche Dunkelheit über dem weitläufigen Landgut von Cafaggiolo nicht dem Licht des neuen Septembertages gewichen. Aber im Osten stemmte sich schon ein heller Schein über den Horizont gegen die Schwärze und kündete davon, dass die Sonne nun bald hinter den Hügeln des Mugello hervorbrechen und ihren unaufhaltsamen Aufstieg am Himmel beginnen würde.
Cosimo de’ Medici schenkte alldem keine Beachtung. Er saß auf einem harten Stuhl mit ebenso hartem und geradem Rückenteil an seinem Schreibtisch. Seine Aufmerksamkeit galt allein den vielen Papieren, die vor ihm im Licht einer Öllampe auf der lang gestreckten Platte des einfachen Faktoreitisches ausgebreitet waren. Bevor die Sonne das Tal im Mugello mit goldenem Licht erfüllte, wollte er schon einige wichtige Korrespondenzen erledigt haben, damit sie später beim Eintreffen des berittenen Firmenboten aus Florenz für diesen zur Mitnahme bereitlagen.
Und Arbeit gab es stets in Hülle und Fülle, denn die Bank- und Handelsgeschäfte ihres so weit verzweigten Unternehmens ruhten nie. Was auch auf alle anderen Kaufleute zutraf, die wie sie grenzüberschreitende Geschäfte tätigten. Denn ausgenommen an Sonntagen und hohen Festtagen fanden sich die Handelsbankiers und Wechselhändler überall auf der Welt und bei jedem noch so misslichen Wetter an ihren festgelegten Börsenplätzen zum Austausch von Informationen und zum Abwickeln von Geschäften ein: in Venedig auf der Piazza del Rialto, in Brügge auf dem Place de la Bourse, in London auf der Lombard Street, in Barcelona in einer offenen Loggia namens Lonja und in Florenz rund um den Mercato Nuovo und den Mercato Vecchio an den grün bespannten Tischen der arte del cambio, der bedeutenden Gilde der Geldwechsler und Bankiers.
Es machte deshalb keinen Unterschied, ob er sich mit seiner Familie nun auf eines der Medici-Landgüter zurückzog, um der unerträglichen Sommerhitze und dem Gestank in der Stadt zu entkommen, oder ob er in Florenz weilte. Hier wie dort brachten Boten und Agenten des Hauses Medici sowie befreundete Geschäftsleute unablässig politische wie wirtschaftliche Nachrichten und Briefe aus aller Herren Länder. Es mochten gut und gern über zehntausend Schreiben sein, die im Laufe eines Jahres dabei zusammenkamen und jedes Jahr dicke Korrespondenzbände füllten.
Die wichtigsten Nachrichten, die fast jedem Brief beilagen, bezogen sich auf den jeweiligen Stand der fremden Währungen. Diese avvisi genannten Informationen gaben die zurzeit gültigen Wechselkurse zum Goldflorin und zu anderen Währungen in jenen Ländern an. Und von der Genauigkeit dieser Avvisi hing es zu einem Großteil ab, ob die Medici-Bank bei einem Geschäft in Brügge, London, Avignon, Konstantinopel, Alexandria oder Barcelona einen Gewinn erzielte oder einen Verlust in ihre Bücher schreiben musste.
Stare sugli avvisi, lautete die oberste Devise der Florentiner Bankiers und Großkaufleute. Früher hatte das einmal nur ganz allgemein »auf der Hut sein« bedeutet. Doch seit Florenz zu einer Metropole des weltweiten Handels und Finanzgeschäftes aufgestiegen war, hatte diese Redensart längst die Bedeutung von »Wechselgeschäfte tätigen« angenommen. Und Wechselgeschäfte machten einen großen Teil der
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