Hundert Jahre Einsamkeit
sah Ursula Prudencio Aguilar von neuem, diesmal im Bad, wie er mit seinem Espartogras das am Hals geronnene Blut abwusch. In einer anderen Nacht sah sie ihn im Regen umhergehen. Erbost über die Wahnvorstellungen seiner Frau, ging José Arcadio Buendía mit seinem Spieß bewaffnet in den Innenhof hinaus. Dort stand der Tote mit seinem traurigen Gesichtsausdruck.
»Geh zum Teufel!« schrie José Arcadio Buendía. »So oft du auch wiederkommst, so oft töte ich dich.«
Prudencio Aguilar wich nicht von der Stelle, und José Arcadio Buendía wagte auch nicht, den Langspieß nach ihm zu werfen. Von da an schlief er nicht mehr gut. Ihn quälte die ungeheure Trostlosigkeit, mit der der Tote ihn im Regen angeblickt hatte, die tiefe Sehnsucht, die jener nach den Lebenden empfand, die Begierde, mit der er das Haus nach Wasser durchsuchte, um seinen Espartograsbausch zu befeuchten. »Er muß arg leiden«, sagte er zu Ursula. »Man sieht, daß er sehr allein ist.« Das ging ihr so nahe, daß sie, als sie das nächste Mal den Toten die Kochtöpfe auf dem Herd aufdecken sah, begriff, was er suchte, und danach Wasserbecken im ganzen Haus aufstellte. Eines Nachts, als José Arcadio Buendía ihn in seinem eigenen Zimmer die Wunden waschen sah, hielt es ihn nicht länger.
»Es ist gut, Prudencio«, sagte er. »Wir gehen fort aus diesem Dorf, so weit fort, wie wir können, und werden nie zurückkehren. Nun geh in Frieden.«
So traten sie denn die Überquerung der Sierra an. Mehrere Freunde José Arcadio Buendías, jung wie er und angelockt vom Abenteuer, lösten ihren Hausstand auf und machten sich mit ihren Frauen und Kindern auf in das Land, das ihnen niemand verheißen hatte. Vor dem Aufbruch vergrub José Arcadio Buendía den Langspieß im Patio und köpfte seine prachtvollen Kampfhähne einen nach dem anderen im Vertrauen darauf, Prudencio Aguilar auf diese Weise ein wenig Frieden zu schenken. Das einzige, was Ursula mitnahm, war eine Truhe mit ihrer Brautausstattung, ein paar Hausgegenstände und das Kästchen mit den Goldmünzen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Sie hatten sich keine bestimmte Marschroute vorgenommen und achteten lediglich darauf, die Riohacha entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, um weder Spuren zu hinterlassen noch bekannten Leuten zu begegnen. Es war eine widersinnige Reise. Nach vierzehn Monaten, mit einem von Affenfleisch und Schlangensuppe verdorbenen Magen, brachte Ursula einen mit allen menschlichen Organen ausgestatteten Knaben zur Welt. Die Hälfte des Weges hatte sie in einer von zwei Männern an einer Stange getragenen Hängematte zurückgelegt, weil ihre Beine von Schwellungen entstellt waren und ihre Krampfadern wie Wasserbläschen platzten. Selbst wenn die geblähten Leiber und hohlen Augen der Kinder ein Bild des Jammers waren, so hielten diese die Reise dennoch besser aus als ihre Eltern und hatten die meiste Zeit doch ihre Freuden. Eines Morgens nach nahezu zwei Jahren Marsch waren sie die ersten Sterblichen, die den Westhang der Sierra erblickten. Vom nebelverhängten Kamm aus betrachteten sie die gewaltige Wasserfläche des bis ans andere Ende der Welt gebreiteten Großen Moors. Doch das Meer fanden sie nicht. Eines Nachts, nach monatelangem Irrweg durch die Sümpfe, fern der letzten, unterwegs angetroffenen Eingeborenen, lagerten sie am Rand eines steinigen Flusses, dessen Wasser einem Sturzbach aus gefrorenem Glas glich. Jahre später, während des zweiten Bürgerkriegs, versuchte Oberst Aureliano Buendía, genau denselben Marsch zu wiederholen, um Riohacha durch einen Handstreich zu nehmen, begriff jedoch nach sechs Tagen Marsch, daß sein Unternehmen Wahnsinn war. Im übrigen sahen die Kämpfer seines Vaters in der Nacht der Lagerung am Fluß aus wie rettungslose Schiffbrüchige, obgleich ihre Anzahl während der Überfahrt gewachsen war und alle entschlossen waren, alt zu sterben. Was auch allen gelang. In dieser Nacht träumte José Arcadio Buendía, daß just an jenem Ort eine lärmende Stadt mit spiegelwändigen Häusern stehe. Er fragte, welche Stadt dies sei, und erfuhr einen Namen, den er nie gehört, der keinerlei Bedeutung, der indes in seinem Traum einen übernatürlichen Klang hatte: Macondo. Am nächsten Tag überzeugte er seine Männer davon, daß sie nie das Meer erreichen würden. Befahl, Bäume zu fällen, um eine Flußlichtung an der kühlsten Uferstelle zu schlagen; und daselbst gründeten sie das Dorf.
José Arcadio Buendía gelang es nicht, den Traum von
Weitere Kostenlose Bücher