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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Küche geholfen hatte. Fernanda war mehrmals zugegen und sah ihn nicht, obwohl er so wirklich, so menschlich war, daß er Amaranta um den Gefallen bat, ihm eine Nadel einzufädeln. Der Tod sagte ihr nicht, wann sie sterben müsse, auch nicht, ob ihre Stunde vor der Rebecas schlagen würde, sondern nur, sie solle mit dem Weben ihres eigenen Totenhemds am kommenden sechsten April beginnen. Er erlaubte ihr, es so ausgefallen und prächtig zu machen, wie sie wünschte, jedoch ebenso würdevoll wie das Rebecas, und kündigte ihr an, sie werde ohne Schmerz sterben, ohne Angst, ohne Bitterkeit, und zwar an dem Abend, da das Hemd fertiggestellt sei. In der Absicht, möglichst viel Zeit zu verlieren, bestellte sie Garn aus Herbstflachs und webte selber das Laken. Sie tat es mit so viel Sorgfalt, daß diese Arbeit allein vier Jahre beanspruchte. Dann begann sie mit der Stickerei. Je näher sie dem unausweichlichen Ende kam, desto tiefer begriff sie, daß nur ein Wunder ihr gestatten würde, die Arbeit über Rebecas Tod hinauszuzögern, doch gerade diese Konzentration verschaffte ihr die Ruhe, die sie brauchte, um sich mit dem Gedanken an ein Scheitern abzufinden. Nun verstand sie den Teufelskreis von Oberst Aureliano Buendías goldenen Fischchen. Die Welt machte an der Oberfläche ihrer Haut halt, und das Innere blieb frei von jeder Bitterkeit. Es schmerzte sie, diese Offenbarung nicht vor Jahren erlebt zu haben, als es noch möglich war, die Erinnerungen zu läutern und das Weltall in neuem Licht wiederherzustellen, sich Pietro Crespis Lavendelgeruch am Abend ohne zu zittern wachzurufen und Rebeca aus ihrem Jammerschlamm zu reißen, nicht aus Haß und nicht aus Liebe, sondern aus grenzenlosem Verständnis der Einsamkeit. Der Haß, den sie eines Abends in Memes Worten spürte, rührte sie nicht etwa, weil er sie betraf, sondern weil sie sich in einer neuen Jugend wiederholt sah, die so rein schien, wie die ihre wohl einst erschienen und dennoch bereits von Groll verdorben war. Doch nun war sie mit ihrem Schicksal dermaßen ausgesöhnt, daß die Gewißheit, alle Möglichkeiten einer Berichtigung seien versperrt, sie nicht im geringsten beunruhigte. Ihr einziges Ziel war, das Totenhemd zu beenden. Statt sie mit nutzlosen Kniffligkeiten hinauszuzögern, wie sie es anfangs getan hatte, beschleunigte sie nun ihre Arbeit. Eine Woche vorher rechnete sie sich aus, den letzten Stich würde sie in der Nacht des vierten Februar tun, und ohne ihr den Grund zu verraten, schlug sie Meme, wiewohl erfolglos, vor, ein auf den Tag darauf geplantes Konzert vorzuverlegen. Nun suchte Amaranta Mittel und Wege, sich um achtundvierzig Stunden zu verspäten, und vermutete sogar, der Tod gebe ihr nach, weil in der Nacht zum vierten Februar ein Gewitter die Lichtleitung zerstörte. Doch am Tage darauf um acht Uhr morgens machte sie den letzten Stich an der schönsten Handarbeit, die je von einer Frau beendet worden war, und verkündete ohne jeden dramatischen Unterton, sie werde gegen Abend sterben. Amaranta benachrichtigte nicht nur die Familie, sondern das ganze Dorf, weil sie sich in den Kopf gesetzt hatte, man könne ein Leben der Kleinlichkeit mit einem einzigen Gefallen an die Welt wiedergutmachen, und dachte, es gäbe keinen besseren als den, Briefe an die Toten mitzunehmen.
    Die Nachricht, Amaranta Buendía werde in der Abenddämmerung abdampfen und die Todespost mitnehmen, wurde in Macondo vor Mittag bekannt, und um drei Uhr nachmittags stand im Wohnzimmer eine mit Briefen gefüllte Kiste. Wer nicht schreiben wollte, übermittelte Amaranta einen mündlichen Bescheid, den sie mit Namen und Todestag des Adressaten in ein Büchlein notierte. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte sie die Absender. »Sowie ich ankomme, frage ich nach ihm und richte ihm deine Botschaft aus.« Das war wie eine Posse. Amaranta verriet keinerlei Verwirrung, nicht das leiseste Zeichen von Schmerz, ja, sie wirkte durch die erfüllte Pflicht verjüngt. Sie hielt sich so gerade und rank wie immer. Ohne die hervorstehenden Backenknochen und einige fehlende Zähne hätte sie weit jünger ausgesehen. Sie ordnete persönlich an, die Briefe in eine geteerte Kiste zu legen und bestimmte die Art ihrer Verwahrung im Grab zum Schutz gegen Feuchtigkeit. Morgens hatte sie einen Schreiner gerufen, von dem sie sich, im Wohnzimmer stehend, wie für ein Kleid für den Sarg Maß nehmen ließ. Während der letzten Stunden erwachte so viel Tatkraft in ihr, daß Fernanda glaubte, sie wolle nur

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