Hundert Jahre Einsamkeit
alle verspotten. Aus der Erfahrung, daß die Buendías ohne Krankheit sterben, bezweifelte Ursula nicht, daß Amaranta den Tod vorausgeahnt habe, doch quälte sie die Furcht, die kopflosen Absender könnten im Begehren, ihre Briefe rechtzeitig abgeliefert zu sehen, sie am Ende noch lebend begraben. Daher bestand sie darauf, das Haus müsse geleert werden, wobei es zu Streit und Schreierei mit den Eindringlingen kam, doch gegen vier Uhr nachmittags hatte sie ihren Willen durchgesetzt. Zu dieser Stunde hatte Amaranta ihren Besitz unter die Armen verteilt und auf dem strengen, ungehobelten Brettersarg nur ihr Gewand und die einfachen Filzpantoffeln gelassen, die sie in den Tod mitnehmen wollte. Diese Vorsicht hatte sie nicht übersehen, da sie sich erinnerte, daß sie Oberst Aureliano Buendía nach seinem Tod ein Paar neue Schuhe hatte kaufen müssen, da ihm nur die in der Werkstatt gebrauchten Pantoffeln geblieben waren. Kurz vor fünf Uhr holte Aureliano Segundo Meme für das Konzert ab und wunderte sich, daß das Haus für die Beerdigung vorbereitet war. Wenn jemand in dieser Stunde lebendig erschien, war es die ruhige gelassene Amaranta, die sogar Zeit gefunden hatte, sich die Hühneraugen zu beschneiden. Aureliano Segundo und Meme verabschiedeten sich von ihr mit scherzhaftem Lebewohl und versprachen ihr, am nächsten Samstag würden sie das Freudenfest der Auferstehung feiern. Vom Gerede des Volks, Amaranta Buendía empfange Briefe für die Toten, angelockt, kam Pater Antonio Isabel gegen fünf Uhr mit der letzten Wegzehrung, mußte aber fünfzehn Minuten warten, bis die Sterbende aus dem Bade kam. Als er sie in einem weißen Kattunhemd und ihr auf die Schultern herabwallendes Haar sah, glaubte der altersschwache Pfarrer, man habe sich hier einen Scherz erlaubt, und schickte den Chorknaben heim. Doch gedachte er die Gelegenheit zu nutzen und Amaranta nach fast zwanzig Jahren Schweigen die Beichte abzunehmen. Amaranta erwiderte bündig, sie bedürfe keinerlei geistlichen Beistands, ihr Gewissen sei rein. Fernanda empörte sich. Ohne sich darum zu kümmern, ob sie gehört werde, fragte sie sich mit vernehmlicher Stimme, welch schreckliche Sünde Amaranta begangen habe, um lieber gotteslästerlich zu sterben, als sich zu der Schande einer Beichte zu bekennen. Nun legte Amaranta sich nieder und zwang Ursula, öffentlich für ihre Jungfräulichkeit zu zeugen.
»Niemand soll sich Selbsttäuschungen hingeben«, schrie sie, damit es Fernanda hören solle. »Amaranta Buendía geht aus dieser Welt, wie sie gekommen ist.«
Sie stand nicht mehr auf. In ihre Kissen zurückgelehnt, als sei sie krank, flocht sie ihre langen Zöpfe und drehte sie zu Schnecken auf den Ohren, so wie sie nach den Anweisungen des Todes im Grab zu liegen hatte. Dann bat sie Ursula um einen Spiegel, sah zum erstenmal seit vierzig Jahren ihr Gesicht von Alter und Martyrium verwüstet und staunte, wie sehr sie dem geistigen Bild ähnelte, das sie von sich hatte. Ursula folgerte aus der Stille im Alkoven, daß es bereits dunkelte.
»Verabschiede dich von Fernanda«, bat sie. »Eine Minute der Versöhnung wiegt mehr als ein ganzes Leben der Freundschaft.«
»Es lohnt nicht mehr«, erwiderte Amaranta.
Meme konnte nicht umhin, an sie zu denken, als die Lichter der Behelfsbühne angingen und sie mit dem zweiten Teil ihres Programms begann. Mitten im Stück flüsterte jemand ihr die Nachricht ins Ohr, und die Aufführung wurde unterbrochen. Als Aureliano Segundo zu Hause anlangte, mußte er sich einen Weg durch die Menge bahnen, um den Leichnam der greisen Jungfrau zu sehen: häßlich und verfärbt, mit der schwarzen Binde an der Hand und in ihr bildschönes Totenhemd gehüllt. Sie lag aufgebahrt im Wohnzimmer neben der Briefkiste.
Nach neun Nächten Totenwache bei Amarantas Leiche stand Ursula nicht mehr auf. Santa Sofía von der Frömmigkeit nahm sich ihrer an. Brachte ihr das Essen ins Schlafzimmer, frisches Wasser zum Waschen und hielt sie über die Geschehnisse in Macondo auf dem laufenden. Aureliano Segundo besuchte sie häufig und brachte ihr Kleider, die sie zu ihren alltäglich benötigten Gegenständen neben das Bett legte, so daß sie sich in kürzester Zeit eine eigene Welt in Reichweite aufbaute. Es gelang ihr, in der kleinen Amaranta Ursula, die ihr sehr ähnlich war und die sie lesen lehrte, große Zuneigung zu erwecken. Ihre Hellsicht, ihre Fähigkeit, sich selbst zu genügen, ließen vermuten, daß sie der Last der hundert Jahre erlegen
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