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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Phantasiebesuche mit Menschen abzustatten, die nicht nur schon lange tot waren, sondern in ganz verschiedenen Epochen gelebt hatten. Mit aschebestäubtem Haupt und dem mit einem roten Fetzen bedeckten Gesicht im Bett sitzend, war Ursula glücklich inmitten einer unwirklichen Verwandtschaft, welche die Kinder bis ins Kleinste beschrieben, als hätten sie jene in Wirklichkeit gekannt. Ursula unterhielt sich mit ihren Vorfahren über die ihrem eigenen Leben vorangegangenen Ereignisse, freute sich über die Neuigkeiten, die jene ihr erzählten, und beweinte mit ihnen Tote, die weit jünger waren als ihre Besucher. Die Kinder merkten bald, daß Ursula im Lauf dieser Trugbildbesuche stets ein und dieselbe Frage stellte, um zu erfahren, wer der Mann sei, der während des Kriegs einen gipsernen Sankt Joséph in Lebensgröße gebracht hatte, damit man ihn über die Regenzeit aufbewahre. Auf diese Weise fiel Aureliano Segundo wieder das nur Ursula bekannte Versteck jenes Vermögens ein, doch alle Fragen und schlauen Machenschaften, die er sich ausdachte, waren fruchtlos, weil sie in ihrem Wahnlabyrinth einen Streifen Hellsicht zu bewahren schien, um jenes Geheimnis zu beschützen, das sie nur dem wahren Eigentümer des begrabenen Goldes zu offenbaren bereit war. Dabei benahm sie sich so geschickt und genau, daß, als Aureliano Segundo einen seiner Saufbrüder anwies, sich bei ihr als Besitzer des Vermögens auszugeben, sie ihn in ein eingehendes, von feinsinnigen Fallen gespicktes Verhör verwickelte.
    Überzeugt, daß Ursula ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen würde, stellte Aureliano Segundo einen Trupp Ausgräber an unter dem Vorwand, Abzugskanäle im Innenhof und Hinterhof zu graben, und er sondierte persönlich den Grund mit Eisenstangen und allen Arten von Metalldetektoren, ohne während der drei Monate unermüdlichen Ausschachtens auf irgend etwas Goldähnliches zu stoßen. Später wandte er sich an Pilar Ternera in der Hoffnung, daß Spielkarten mehr hülfen als Gräber, doch sie erklärte rundweg, jeder Versuch sei nutzlos, solange Ursula noch lebe. Dafür bestätigte sie das Vorhandensein des Schatzes mit großer Genauigkeit: es seien siebentausendzweihundertvierzehn Goldmünzen in drei mit Kupferdraht verschlossenen Segeltuchsäcken, begraben in einem Kreis mit einem Halbmesser von einhundertundzweiundzwanzig Metern, wobei Ursulas Bett als Mitte zu nehmen sei, doch sie warnte, er werde nicht gefunden werden, bevor nicht der Regen aufgehört und die Sonne drei aufeinanderfolgende Junimonate die Sümpfe in Staub verwandelt habe. Die Ausführlichkeit und haargenaue Unbestimmtheit der Daten erinnerte Aureliano Segundo so deutlich an spiritistische Fabeln, daß er auf seinem Unternehmen beharrte, obwohl man im August war und mindestens drei Jahre hätte warten müssen, um die Bedingungen der Voraussicht zu erfüllen. Das erste, was seine Verwunderung auslöste, obwohl es gleichzeitig seine Verwirrung vergrößerte, war die Feststellung, daß die Entfernung von Ursulas Bett bis zur Mitte des Hinterhofs genau einhundertzweiundzwanzig Meter betrug. Fernanda fürchtete, er sei so verrückt wie sein Zwillingsbruder, als sie ihn die Messungen durchführen sah, und noch verrückter, als er dem Ausschachtungstrupp befahl, alle Gräben um einen Meter zu erweitern. Ebenso gepackt vom Forscherwahn wie sein Urgroßvater, als dieser die Straße der Erfindungen suchte, verlor Aureliano Segundo die letzten ihm verbliebenen Fettpolster, und seine frühere Ähnlichkeit mit dem Zwillingsbruder verstärkte sich wieder, nicht nur infolge seiner schlank gewordenen Figur, sondern auch durch sein zerstreutes Gebaren und sein in sich gekehrtes Wesen. Er kümmerte sich nicht mehr um die Kinder. Er aß irgendwann, kotig von Kopf bis Fuß, und zwar in einer Küchenecke, und antwortete kaum auf Santa Sofías von der Frömmigkeit gelegentliche Fragen. Da sie ihn derartig arbeiten sah, wie sie es ihm nie zugetraut hatte, hielt Fernanda seine Verwegenheit für Fleiß, seine Gier für Selbstverleugnung und seinen Eigensinn für Beharrlichkeit, und sie bekam furchtbare Gewissensbisse wegen der Heftigkeit, mit der sie gegen seine Trägheit gewettert hatte. Doch nun stand Aureliano Segundo nicht mehr der Sinn nach barmherziger Versöhnung. Bis zum Hals in einem Morast aus totem Gezweig und vermoderten Blumen steckend, stellte er den ganzen Garten auf den Kopf, nachdem er das gleiche mit Innenhof und Hinterhof bewerkstelligt hatte, und bohrte dabei die

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