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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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in der José Arcadio Buendía sich auf der Suche nach dem Stein der Weisen das Gehirn zermürbt hatte, von Trümmern und Spinnweben säubern, schaffte Ordnung in der von den Soldaten durchstöberten Silberschmiedewerkstatt und bat endlich um die Schlüssel von Melchíades' Kammer, um dort nach dem Rechten zu sehen. Getreu José Arcadio Segundos Wunsch, der sich jede Einmischung verbeten hatte, sofern kein greifbares Anzeichen seines erfolgten Todes zu sehen sei, nahm Santa Sofía von der Frömmigkeit ihre Zuflucht zu allen Arten von Vorwänden, um Ursula abzulenken. Doch ihre Entschlossenheit, nicht den unbrauchbarsten Winkel des Hauses dem Getier zu überlassen, war so unbeugsam, daß sie jedes ihr in den Weg gestellte Hindernis überwand und nach drei Tagen des Beharrens erreichte, daß man ihr die Kammer öffnete. Sie mußte sich an den Türpfosten klammern, um nicht vom Pestgestank umgeworfen zu werden, brauchte aber nicht mehr als zwei Sekunden, um sich darauf zu besinnen, daß darin die zweiundsiebzig Nachttöpfe der Novizinnen untergebracht waren und daß in einer der ersten Regennächte eine Militärpatrouille das Haus vergeblich nach José Arcadio Segundo durchsucht hatte.
    »Gelobt sei Gott!« rief sie aus, als habe sie alles gesehen. »Man hat sich solche Mühe gegeben, dir Manieren beizubringen, und nun haust du wie ein Schwein.«
    José Arcadio Segundo las noch immer in seinen Pergamenten. Das einzig Sichtbare in dem undurchdringlichen Haargewirr waren die grünbeschlammten Zähne und die reglosen Augen. Als er die Stimme seiner Urgroßmutter erkannte, bewegte er den Kopf in Richtung Tür, versuchte zu lächeln und wiederholte unwillkürlich einen uralten Ausspruch Ursulas.
    »Was willst du«, murmelte er, »die Zeit vergeht.«
    »So ist es«, sagte Ursula. »Aber nicht ganz so.« Als sie das sagte, wurde ihr bewußt, daß sie die gleiche Antwort gab, die Oberst Aureliano Buendía ihr in seiner Todeskandidatenzelle gegeben hatte, und wieder einmal erschauerte sie angesichts des Beweises, daß die Zeit nicht vorüberging, wie sie gerade zugegeben hatte, sondern daß sie im Kreise lief. Doch auch jetzt gab sie nicht auf. Sie schalt José Arcadio Segundo, als sei er ein Kind, und bestand darauf, daß er badete, sich rasierte und seine Kräfte der Wiederinstandsetzung des Hauses widmete. Der bloße Gedanke, diese Kammer zu verlassen, die ihm Frieden geschenkt hatte, erschreckte José Arcadio Segundo. Er schrie, keine Menschenmacht brächte ihn hier heraus, und zwar nur, weil er nicht den Güterzug mit seinen zweihundert mit Toten beladenen Waggons sehen wolle, der jeden Abend zum Meer abdampfe. »Es sind alle, die am Bahnhof waren«, schrie er. »Dreitausendvierhundertundacht.« Erst jetzt begriff Ursula, daß er in einer viel dichteren Nebelwelt als der ihren weilte, in einer ebenso undurchdringlichen und einsamen wie die seines Urgroßvaters. Sie ließ ihn im Zimmer, erreichte indessen, daß das Schloß nicht mehr vorgehängt wurde, daß jeden Tag saubergemacht wurde, daß die Töpfe in den Müll geworfen wurden und man ihm nur einen daließ und daß José Arcadio Segundo so reinlich und anständig gehalten wurde, wie es der Urgroßvater in seiner langen Gefangenschaft unter der Kastanie gewesen war. Zunächst deutete Fernanda dies Treiben als einen Anfall von Alterswahnsinn und konnte nur mühsam ihre Erbitterung beherrschen. Doch José Arcadio kündigte ihr zu jener Zeit aus Rom an, er gedenke nach Macondo zu kommen, bevor er die Priesterweihen empfange, und die gute Nachricht machte sie so froh, daß sie sich von einem Tag auf den anderen dabei ertappte, wie sie die Blumen viermal am Tag begoß, damit ihr Sohn keinen üblen Eindruck vom Haus bekomme. Derselbe Anreiz trieb sie auch dazu, ihren Briefwechsel mit den unsichtbaren Ärzten wieder aufzunehmen und in der Veranda die Farn- und Oreganokübel sowie die Begonientöpfe wieder aufzustellen, und noch bevor Ursula erfahren konnte, daß sie von Aureliano Segundos Zerstörungswut zerschlagen worden waren. Später verkaufte sie das silberne Tischservice und kaufte Keramikgeschirr, Suppenschüsseln, zinnerne Schöpflöffel und Alpakabestecke und machte dadurch die an das Porzellan der Indischen Kompagnie und an böhmisches Kristall gewöhnten Wandschränke um einiges ärmer. Aber das war Ursula noch nicht genug. »Man öffne mir Türen und Fenster«, schrie sie. »Man koche mir Fleisch und Fisch, man kaufe die größten Schildkröten, es sollen auch wieder

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