Hundert Jahre Einsamkeit
Frau zuliebe ein paar Monate in Macondo zu verbringen, hatten ihn gezwungen, seinen Plan aufzuschieben. Doch als er sah, daß Amaranta Ursula sich anschickte, einen Ausschuß zur Förderung öffentlicher Einrichtungen zu gründen, begriff er, daß hier auf lange Sicht geplant wurde, und nahm wieder seine Verbindungen mit den vergessenen Brüsseler Partnern auf in der Annahme, Pionier könne man ebensogut im Karibischen Meer wie in Afrika sein. Während die Verhandlungen fortschritten, ließ er in dem alten verzauberten Gebiet, das damals einer riesigen Ebene aus Feuerstein glich, einen Flugplatz anlegen und studierte die Richtung der Winde, die Geographie des Küstenlandes und die für die Luftfahrt geeignetsten Strecken, ohne zu wissen, daß sein Mr. Herbert so ähnlicher Eifer im Dorf den gefährlichen Verdacht säte, sein Vorhaben ziele nicht auf die Einrichtung von Luftwegen, sondern auf den Anbau von Bananen. Begeistert über ein Ereignis, das letzten Endes sein Verbleiben in Macondo rechtfertigen sollte, unternahm er mehrere Reisen in die Provinzhauptstadt, suchte Behörden auf, erhielt Lizenzen und unterschrieb Ausschließlichkeitskontrakte. Mittlerweile unterhielt er mit seinen Brüsseler Teilhabern eine Fernandas mit den unsichtbaren Ärzten ähnliche Korrespondenz und überredete sie schließlich, in der Obhut eines erfahrenen Mechanikers ein erstes Flugzeug zu verschiffen, das dieser im nächstgelegenen Hafen zusammensetzen und nach Macondo fliegen sollte. Ein Jahr nach den ersten Vermessungen und meteorologischen Berechnungen hatte er im Vertrauen auf die wiederholten Versprechungen seiner Brieffreunde die Gewohnheit angenommen, durch die Straßen zu schlendern und den Himmel zu beäugen und in stetiger Erwartung des Flugzeugs die Geräusche der Winde abzuhorchen.
Auch wenn es ihr nicht auffiel, hatte Amaranta Ursulas Rückkehr dennoch Aurelianos Leben grundlegend verändert. Nach José Arcadios Tod war er ein eifriger Kunde der Buchhandlung des katalanischen Weisen geworden. Außerdem hatten die Freiheit, die er damals genoß, und die Zeit, die ihm zu Gebote stand, in ihm eine gewisse Neugierde nach dem Dorf geweckt, das er ohne Staunen kennenlernte. So durchlief er die staubigen, einsamen Straßen, erforschte mit eher wissenschaftlichem als menschlichem Interesse das Innere der halbzerfallenen Häuser, die verrosteten Gitternetze der Fenster und die todkranken Vögel sowie die von ihren Erinnerungen zermürbten Einwohner. Mit der Einbildungskraft versuchte er den vernichteten Glanz der alten Stadt der Bananengesellschaft zu rekonstruieren, deren trockenes Schwimmbecken bis zum Rande wimmelte von verfaulten Männerstiefeln und Frauenschuhen und in deren unkrautüberwucherten Häusern er das Skelett eines deutschen Schäferhundes fand, dessen Halsband noch an einer Stahlkette hing, sowie ein Telefon, das läutete, läutete, läutete, bis er den Hörer abnahm und hörte, was eine verängstigte und sehr ferne Frau auf englisch fragte, worauf er ihr antwortete, ja, der Streik sei vorüber, die dreitausend Toten seien ins Meer geworfen worden, die Bananengesellschaft sei abgereist, und Macondo lebe seit vielen Jahren endlich wieder in Frieden. Diese Wanderungen führten ihn in das zerstörte Vergnügungsviertel, wo zu anderen Zeiten Bündel von Banknoten zur Erheiterung verbrannt wurden und das nunmehr ein Labyrinth trostloser und kümmerlicherer Gassen war als alle anderen, wo noch ein paar rote Lämpchen brannten und noch etliche mit Girlandenfetzen geschmückte Tanzdielen gähnten, in denen die verblühten, feisten Niemandswitwen, die französischen Urgroßmütter und die babylonischen Matriarchinnen noch immer neben ihren Victrolas warteten. Aureliano begegnete niemandem, der sich noch an seine Familie erinnerte, nicht einmal an den Oberst Aureliano Buendía, mit Ausnahme des ältesten der uralten Neger, eines Tattergreises, dessen Wollkopf ihm das Aussehen eines fotografischen Negativs verlieh, der nach wie vor in seinem Portal die düsteren Psalmen der Abenddämmerung sang. Aureliano plauderte mit ihm in dem verdrehten Kauderwelsch, das er in wenigen Wochen erlernt hatte, und aß mitunter von der Hahnenkopfbrühe, die dessen Urenkelin zusammenbraute, eine gewaltige Negerin von solidem Knochenbau, mit Stutenhüften und munteren Melonentitten und dazu einem kropfrunden, vollkommenen Kopf, gewappnet mit einem harten Drahthaarhelm, welcher der Sturmhaube eines mittelalterlichen Kriegers glich. Sie hieß
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