Hundert Jahre Einsamkeit
Arcadio heißen sollten, sowie mit einer Tochter, die Virginia und unter keinen Umständen Remedios heißen würde. Sie hatte mit einer so begehrlichen Beharrlichkeit das von der Sehnsucht idealisierte Dorf heraufbeschworen, daß Gaston begriff, sie wolle unter keinen Umständen heiraten, sofern er nicht mit ihr in Macondo leben würde. Er stimmte zu, wie er später dem Seidenband zustimmte, da er es für eine vorübergehende Laune hielt, der mit der Zeit Herr zu werden war. Doch als zwei Jahre in Macondo vergangen waren und Amaranta Ursula ebenso glücklich war wie am ersten Tag, begann er unruhig zu werden. Schon zu jener Zeit hatte er alle Insekten zerlegt, die es in der Gegend zu jagen gab, er sprach Spanisch wie ein Einheimischer, er hatte alle Kreuzworträtsel der per Post empfangenen Zeitschriften gelöst. Er konnte nicht das Klima als Vorwand zu einer eiligen Rückkehr mißbrauchen, da die Natur ihn mit einer Kolonialleber begnadet hatte, die ohne zu murren der Mittagsschwüle und den Würmern im Trinkwasser widerstand. Die Kreolenkost mundete ihm so sehr, daß er einmal zweiundachtzig Leguaneier an einem Strang verzehrte. Amaranta Ursula hingegen ließ sich per Eisenbahn in eisgekühlten Kisten Fische und Seemuscheln, Büchsenfleisch und Kompotte kommen, das einzige, was sie essen konnte; sie kleidete sich weiterhin nach europäischer Mode, erhielt Modejournale per Post, obgleich sie nicht wußte, zu welchen Besuchen sie dergleichen tragen sollte, obgleich es ihrem Gatten zu jener Zeit an Humor fehlte, um an ihren kurzen Kleidern, ihren schiefgestülpten Filzhüten und ihren siebenmal geschlungenen Halsbändern Gefallen zu finden. Ihr Geheimnis schien darin zu bestehen, daß sie stets Mittel und Wege fand, beschäftigt zu sein, daß sie selbstgeschaffene häusliche Probleme löste und Schnitzer machte, die sie am nächsten Tag wiedergutmachen konnte, und zwar mit einem fast gefährlichen Eifer, der an Fernanda und ihr erbliches Laster erinnerte, aufzubauen, um abzubauen. Ihre Lust zum Feiern war damals so wach, daß sie, sobald sie neue Platten bekam, Gaston aufforderte, bis spät in die Nacht im Wohnzimmer mit ihr die Tänze einzuüben, die ihre früheren Internatsfreundinnen ihr auf Skizzen beschrieben, und das Ganze endete meist in Liebesfesten auf Wiener Schaukelstühlen oder auf dem blanken Fußboden. Das einzige, was ihr zu ihrem vollkommenen Glück fehlte, war die Geburt ihrer Söhne, doch sie achtete den mit ihrem Mann abgeschlossenen Pakt, vor Ablauf einer fünfjährigen Ehe keine Kinder zu bekommen.
Auf der Suche nach einem Zeitvertreib für seine toten Stunden pflegte Gaston den Vormittag mit dem menschenscheuen Aureliano in Melchíades' Kammer zuzubringen. Es machte ihm Freude, gemeinsam mit jenem die vertrautesten Winkel seiner Heimat wachzurufen, die Aureliano kannte, als habe er dort geraume Zeit verbracht. Wenn Gaston ihn fragte, wie er es angestellt habe, sich Auskünfte zu verschaffen, die nicht in der Enzyklopädie standen, erhielt er die gleiche Antwort wie José Arcadio: »Man weiß alles.« Außer Sanskrit hatte Aureliano Englisch und Französisch gelernt, dazu etwas Latein und Griechisch. Wie damals ging er jeden Nachmittag aus; Amaranta Ursula hatte ihm ein wöchentliches Taschengeld für seine persönlichen Ausgaben zugebilligt; sein Zimmer glich einer Abteilung des Buchladens des katalanischen Weisen. Heißhungrig las er bis tief in die Nacht hinein, auch wenn Gaston nach der Art, wie er von seiner Lektüre sprach, vermutete, daß er erstens die Bücher nicht etwa kaufe, um sich zu bilden, sondern nur um die Genauigkeit seiner Kenntnisse zu prüfen, und daß ihn überdies nichts mehr fessele als die Pergamente, denen er seine besten Morgenstunden widmete. Gaston wie seine Frau hätten gewünscht, ihn dem Familienleben einzugliedern, doch Aureliano war ein verschlossener Mensch und hüllte sich in eine Wolke aus Geheimnissen, die mit der Zeit nur dichter wurde. Der Wall, den er um sich errichtet hatte, war so unüberwindlich, daß Gaston im Bemühen, ihm näherzukommen, scheiterte und andere Zerstreuungen suchen mußte, ihm seine toten Stunden zu füllen. Zu jener Zeit kam ihm die Idee, einen Luftpostdienst einzurichten. Das war kein neues Projekt. In Wirklichkeit war es bereits in seinem Kopf gediehen, als er Amaranta Ursula kennenlernte, freilich nicht für Macondo, sondern für Belgisch-Kongo, wo das Geld seiner Familie in Palmöl steckte. Seine Heirat, sein Entschluß, seiner
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