Hundert Jahre Einsamkeit
sondern in Kerben, die sie mit ihrem Daumennagel hinter die Tür ritzte. Gegen Abend, während sie im Schatten des Platzes umherstrich, wanderte Aureliano wie ein Fremder in der Veranda auf und ab und begrüßte kaum Amaranta Ursula und Gaston, die zu dieser Stunde gewöhnlich zu Abend speisten, und schloß sich dann wieder in seinem Zimmer ein, ohne lesen, schreiben oder gar nachdenken zu können, vor lauter Begierde, die das Gelächter in ihm auslöste, das Geflüster, das verliebte Vorgeplänkel und bald darauf die Ausbrüche schmerzhafter Lust, welche die Nächte des Hauses füllten. So verlief sein Leben zwei Jahre lang, bis Gaston den Aeroplan zu erwarten begann, und so verlief es noch an dem Nachmittag, als er in die Buchhandlung des katalanischen Weisen ging und dort vier jugendliche Großmäuler traf, die wild über die Vernichtungsmethoden von Kellerasseln im Mittelalter stritten. Der alte Buchhändler, der Aurelianos Vorliebe für Bücher kannte, die nur Beda der Verehrungswürdige gelesen hatte, drang mit väterlicher Verschmitztheit in ihn, er möge doch an der Kontroverse teilnehmen, und so holte er nicht einmal Luft, um auseinanderzusetzen, die Kellerassel, das älteste geflügelte Insekt der Erde, sei zwar bereits im Alten Testament das beliebteste Opfer von Pantoffelhieben gewesen, als Gattung indes widerstehe es endgültig jedem Ausrottungsversuch, angefangen bei boraxgetränkten Tomatenscheiben bis zum gezuckerten Mehl, da ihre tausendsechshundertunddrei Abarten der ältesten, hartnäckigsten und erbarmungslosesten Verfolgung widerstanden hätten, die der Mensch seit seinen Anfängen gegen irgendein Lebewesen einschließlich des Menschen selbst entfesselt habe, so daß man dem Menschengeschlecht, dem man bekanntlich den Fortpflanzungstrieb zuschreibe, einen noch bestimmteren, zwingenderen zuerkennen müsse: den Kellerasseltötungstrieb, und wenn diese Tiere der menschlichen Grausamkeit hatten entkommen können, so nur, weil sie in die Finsternis geflüchtet waren, wo sie dank der angeborenen menschlichen Dunkelheitsangst sicher waren; dann aber wurden sie von neuem empfänglich für den Glanz des Mittags, so daß bereits im Mittelalter, in der Gegenwart sowie in den kommenden Jahrhunderten die einzig wirksame Methode, der Kellerasseln Herr zu werden, die Sonnenblendung sei.
Dieser enzyklopädische Fatalismus wurde zum Beginn einer großen Freundschaft. Nun traf Aureliano sich jeden Nachmittag mit den vier Wortstreitern namens Alvaro, Germán, Alfonso und Gabriel, die ersten und letzten Freunde, die er im Leben hatte. Für einen in der schriftlich niedergelegten Wirklichkeit verschanzten Menschen wie ihn waren diese quälenden Sitzungen, die in der Buchhandlung um sechs Uhr abends begannen und gegen Morgen in den Bordells endeten, eine Offenbarung. Er hätte nie gedacht, daß die Literatur das beste Spielzeug sei, das je erfunden worden war, damit man sich über die Leute lustig machen konnte, wie es Alvaro in einer Bummelnacht bewies. Doch mußte einige Zeit vergehen, bevor Aureliano sich darüber klar wurde, daß eine so willkürliche Auffassung auf dem Beispiel des katalanischen Weisen fußte, für den die Weisheit nicht lohnte, sofern sie nicht dazu diente, eine neue Zubereitungsart der Kichererbsen zu erfinden.
Der Nachmittag, an dem Aureliano sein Referat über die Kellerasseln hielt, endete mit einer Diskussion im Haus der kleinen Mädchen, die aus Hunger ins Bett gingen, in einem Lügenbordell in Macondos Bannmeile. Die Besitzerin war eine grinsende Hebamme, die an der Sucht litt, unablässig die Türen zu öffnen und zu schließen. Ihr ewiges Lächeln schien von der Leichtgläubigkeit ihrer Kunden herzurühren, die ein Institut für echt hielten, das nur in der Phantasie bestand, weil hier sogar die greifbaren Gegenstände unwirklich waren: die Möbel, die unter dem Platznehmenden auseinanderbrachen, das ausgeweidete Victrola, in dessen Gehäuse eine Henne brütete, der Garten mit seinen Papierblumen, die aus den Jahren vor der Ankunft der Bananengesellschaft stammenden Almanache, die Lithographien nie erschienener Zeitschriften. Selbst die schüchternen kleinen Huren, die aus der Nachbarschaft herbeieilten, wenn die Hausherrin sie von der Ankunft der Kundschaft benachrichtigte, waren reine Erfindung. Ohne zu grüßen, kamen sie in geblümten Kleidchen, die sie im Alter von fünf Jahren getragen hatten, und zogen sie mit der gleichen Unschuld aus, mit der sie sie angezogen hatten, und im
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