Hundert Jahre Einsamkeit
sprechen«, gab er zurück. »Wenn Sie etwas zu sagen haben, so sagen Sie es vor dem Kriegsgericht.«
Ursula tat es nicht nur, sie brachte sogar alle Mütter der in Macondo wohnenden revolutionären Offiziere dazu, zu seinen Gunsten auszusagen. Eine nach der anderen rühmten die alten Gründerinnen des Dorfes, von denen mehrere an der tollkühnen Überschreitung der Sierra teilgenommen hatten, die Tugenden des General Moncada. Ursula sprach zuletzt. Die Würde ihrer Trauer, das Gewicht ihres Namens, die überzeugende Heftigkeit ihrer Zeugenaussage brachten das Gleichgewicht der Rechtsprechung einen Augenblick ins Schwanken. »Sie haben dieses schreckliche Spiel sehr ernst genommen und haben gut daran getan, denn damit erfüllen Sie Ihre Pflicht«, sagte sie zu den Mitgliedern des Gerichts. »Vergessen Sie jedoch eines nicht: Solange Gott uns Leben schenkt, bleiben wir Mütter und haben das Recht, Ihnen — und mögen Sie noch so revolutionär sein — die Hosen herunterzuziehen und Ihnen bei der ersten Mißachtung eine gehörige Tracht Prügel zu verabreichen.« Das Gericht zog sich zur Beratung zurück, während diese Worte in der zur Kaserne umgewandelten Schule nachhallten. Um Mitternacht wurde General José Raquel Moncada zum Tode verurteilt. Oberst Aureliano Buendía weigerte sich trotz Ursulas heftiger Beschuldigungen, das Urteil umzuwandeln. Kurz vor Morgengrauen besuchte er den Todeskandidaten in der Blockkammer.
»Vergiß nicht, Gevatter, daß nicht ich dich erschieße. Die Revolution erschießt dich.«
General Moncada erhob sich nicht einmal von seiner Pritsche. »Leck mich am Arsch, Gevatter«, antwortete er.
Bis zu diesem Augenblick seit seiner Rückkehr hatte Oberst Aureliano Buendía sich nicht dazu herabgelassen, ihn mit dem Herzen anzuschauen. Er staunte, wie sehr er gealtert war, wie sehr seine Hände zitterten, mit welcher fast gewohnheitsgemäßen Nachgiebigkeit er den Tod erwartete, und nun fühlte er tiefe Verachtung für sich selbst, die er mit einem Anflug von Erbarmen verwechselte.
»Du weißt besser als ich«, sagte er, »daß jedes Kriegsgericht eine Posse ist und daß du in Wirklichkeit für die Verbrechen anderer zahlen mußt, weil wir diesmal den Krieg gewinnen werden, koste es, was es wolle. Hättest du an meiner Stelle nicht das gleiche getan?«
General Moncada richtete sich auf, um seine große Schildpattbrille am Hemdsärmel zu reinigen. »Wahrscheinlich«, sagte er. »Was mich beschäftigt, ist nicht, daß du mich erschießen läßt, weil das letzten Endes für Leute wie uns der natürlichste Tod ist.« Er legte die Brille aufs Bett und hakte seine Uhrkette aus dem Knopfloch. »Mich beschäftigt, daß dadurch, daß du die Militärs so abgründig haßt, sie so wütend bekämpfst und so viel über sie nachdenkst, du ihresgleichen geworden bist. Und es gibt kein Ideal im Leben, das so viel Verachtung verdient.« Er streifte den Ehering ab und das Medaillon der Jungfrau von den Heilmitteln und legte beides zu Brille und Uhr.
»Wenn du so weitermachst«, schloß er, »wirst du nicht nur der despotischste, blutrünstigste Diktator unserer Geschichte, du wirst auch noch meine Gevatterin Ursula erschießen, um damit dein Gewissen zu beruhigen.«
Oberst Aureliano Buendía ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nun übergab ihm General Moncada Brille und Medaillon, Uhr und Ring und sagte in verändertem Ton:
»Aber ich hab' dich nicht kommen lassen, um dich zu beschimpfen. Ich wollte dich um den Gefallen bitten, diese Dinge meiner Frau zu schicken.«
Oberst Aureliano Buendía steckte sie in seine Taschen.
»Lebt sie noch in Manaure?«
»Sie lebt noch in Manaure«, bejahte General Moncada. »Und zwar in demselben Haus hinter der Kirche, wohin du jenen Brief geschickt hast.«
»Ich werde es mit Vergnügen tun, José Raquel«, sagte Oberst Aureliano Buendía.
Als er in die bläuliche Nebelluft hinaustrat, wurde sein Gesicht feucht wie an jenem vergangenen Tagesanbruch, und nun erst begriff er, warum er angeordnet hatte, das Urteil solle im Innenhof und nicht an der Friedhofsmauer vollstreckt werden. Das vor der Tür angetretene Erschießungskommando erwies ihm die Ehren eines Staatsoberhaupts.
»Ihr könnt ihn holen«, befahl er.
Oberst Gerineldo Márquez war der erste, der die Leere des Krieges wahrnahm. In seiner Eigenschaft als Zivil- und Militärchef von Macondo führte er zweimal in der Woche telegrafische Gespräche mit Oberst Aureliano Buendía.
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