Hundert Jahre Einsamkeit
Persönlichkeit hervor: General Teófilo Vargas. Dieser war ein reiner Indio, Bergbewohner, Analphabet, begabt mit einer wortkargen Boshaftigkeit und einer messianischen Berufung, die unter seinen Männern einen wahnsinnigen Fanatismus hervorgerufen hatte. Oberst Aureliano Buendía hatte die Versammlung mit der Absicht einberufen, die aufrührerischen Oberbefehlshaber gegen die Machenschaften der Politiker zu vereinigen. General Teófilo Vargas kam seinen Absichten zuvor: In wenigen Stunden untergrub er die Koalition der befähigtsten Befehlshaber und bemächtigte sich des Zentralkommandos. »Auf diesen Wüterich heißt es ein Auge halten«, sagte Oberst Aureliano Buendía zu seinen Offizieren. »Für uns ist dieser Mann gefährlicher als der Kriegsminister.« Nun hob ein blutjunger Hauptmann, der stets durch seine Schüchternheit aufgefallen war, behutsam einen Zeigefinger:
»Das ist sehr einfach, Herr Oberst. Wir müssen ihn töten.«
Oberst Aureliano Buendía war weniger über die Unverfrorenheit des Vorschlags als darüber bestürzt, daß der Redner seinem eigenen Gedanken um den Bruchteil einer Sekunde zuvorgekommen war.
»Erwartet nicht, daß ich diesen Befehl gebe«, sagte er.
Und tatsächlich gab er ihn auch nicht. Doch vierzehn Tage danach wurde General Teófilo Vargas in einem Hinterhalt mit Buschmessern gevierteilt, und Oberst Aureliano Buendía übernahm den Oberbefehl. In derselben Nacht, in der seine Befehlsgewalt von allen aufrührerischen Kommandostellen anerkannt wurde, erwachte er erschrocken und schrie nach einer Decke. Innere Kälte, die ihm bis in die Knochen drang und ihn sogar in der heißesten Sonne durchschauerte, raubte ihm mehrere Monate lang den Schlaf, bis er sich daran gewöhnt hatte. Seine Machttrunkenheit begann in Anfälle von Übelkeit auszuarten. Auf der Suche nach einer Arznei gegen die Kälte ließ er den jungen Offizier erschießen, der den Mord an General Teófilo Vargas angeregt hatte. Stets wurden seine Befehle ausgeführt, ehe er sie erteilt, ja ehe er sie erdacht hatte, und reichten stets weiter, als er sich hätte träumen lassen. In der Einsamkeit seiner gewaltigen Macht verirrt, verlor er langsam die Richtung. Die Leute, die ihm in den besiegten Dörfern zujubelten, waren ihm lästig und wirkten auf ihn genau wie die, welche dem Feind zujubelten. Allerwärts traf er Jugendliche, die ihn mit seinen eigenen Augen anblickten, die mit seiner eigenen Stimme sprachen, die ihn mit dem gleichen Argwohn grüßten, mit dem er sie grüßte, und die sich als seine Söhne ausgaben. Er fühlte sich zerstreut, nachgemacht und einsamer denn je. Er war überzeugt, daß seine eigenen Offiziere ihn belogen. Er stritt mit dem Herzog von Marlborough. »Der beste Freund«, sagte er damals häufig, »ist der, der gerade gestorben ist.« Er war der Ungewißheit müde, des tückischen Kreises jenes ewigen Krieges, der ihn immer an derselben Stelle antraf, freilich älter, verbrauchter, doch im unklaren über das Warum, Wie, Wohin. Immer stand jemand außerhalb des Kreidekreises. Jemand, dem es an Geld fehlte, der einen Sohn mit Keuchhusten hatte oder der für immer einschlafen wollte, weil er den Scheißgeschmack des Krieges nicht länger auf der Zunge ertragen konnte, und dennoch mit allerletzter Kraft strammstand und meldete: »Alles normal, Herr Oberst.« Und die Normalität war gerade das schrecklichste an jenem endlosen Krieg: Es geschah nichts. Allein, von jeder Vorahnung verlassen, vor der Kälte fliehend, die ihn bis zum Tode begleiten sollte, suchte er in Macondo seine letzte Zuflucht bei der Wärme seiner ältesten Erinnerungen. So schlimm war seine Trägheit, daß, als ihm die Ankunft einer Abordnung seiner Partei gemeldet wurde, die befugt war, über die Ausweglosigkeit des Krieges zu verhandeln, er sich nur in seiner Hängematte umdrehte, ohne ganz aufzuwachen.
»Führt sie zu den Huren«, sagte er.
Es waren sechs Anwälte in Überrock und Zylinder, die mit hartnäckigem Gleichmut die verheerende Novembersonne ertrugen. Ursula gewährte ihnen Unterkunft. Sie verbrachten den größten Teil des Tages bei Geheimsitzungen im Schlafzimmer und baten abends um eine Schutzwache und eine Akkordeonkapelle, um dann Catarinos Butike zu belegen. »Stört sie nicht«, befahl Oberst Aureliano Buendía. »Schließlich und endlich weiß ich, was sie wollen.« Anfang Dezember schloß die lang erwartete Sitzung, die viele als endlose Diskussion vorausgesehen hatten, nach einer knappen Stunde.
In
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