Hundert Jahre Einsamkeit
Goldschmiedewerkstatt nur unpersönliche Gegenstände zurück, verschenkte seine Kleider an die Ordonnanzen und begrub seine Waffen im Innenhof mit der gleichen Bußfertigkeit, mit der sein Vater den Speer begraben hatte, der Prudencio Aguilar durchbohrt hatte. Nur die Pistole behielt er, und nur eine Kugel. Ursula mischte sich nicht ein. Nur einmal widersprach sie, nämlich als er Remedios' Daguerreotyp vernichten wollte, der, von einem ewigen Lämpchen erleuchtet, im Wohnzimmer hing. »Dieses Bild gehört dir schon lange nicht mehr«, sagte sie. »Es ist eine Familienreliquie.« Am Vorabend des Waffenstillstands, als kein Gegenstand mehr im Haus war, der an ihn erinnert hätte, trug er seine Truhe mit Versen in die Bäckerei, gerade als Santa Sofía von der Frömmigkeit Feuer im Ofen machen wollte.
»Benutze das hier«, sagte er und reichte ihr das erste Bündel vergilbter Bogen. »Es brennt besser, weil es uraltes Zeug ist.« Santa Sofía von der Frömmigkeit, die schweigsame, die gefällige, die nie ihren eigenen Kindern widersprochen hatte, fühlte, daß dies verboten sei.
»Das sind wichtige Papiere«, sagte sie.
»Nichts dergleichen«, sagte der Oberst. »Es sind Dinge, die man für sich selber schreibt.«
»Dann verbrennen Sie sie selbst, Herr Oberst.«
Er tat es nicht nur, sondern zerhackte auch die Truhe und warf ihre Stücke ins Feuer. Stunden zuvor hatte Pilar Ternera ihn aufgesucht. Nach den vielen Jahren, in denen er sie nicht mehr gesehen hatte, staunte Oberst Aureliano Buendía, wie alt und dick sie geworden, wie glanzlos ihr Lachen geworden war, er staunte aber auch über die Tiefe, die sie durchs Kartenlesen gewonnen hatte. »Hüte deinen Mund«, sagte sie, und er fragte sich, ob es das erste Mal, als sie es auf dem Höhepunkt seines Ruhms gesagt hatte, nicht eine verblüffende Vorahnung seines Schicksals gewesen war. Kurz darauf, als sein Leibarzt ihn von den Furunkeln befreit hatte, fragte er ihn nebenbei, wo genau das Herz säße. Der Arzt auskultierte ihn und malte ihm mit jodgetränkter Watte einen Kreis auf die Brust.
Der Dienstag des Waffenstillstands erwachte lau und regnerisch. Oberst Aureliano Buendía erschien vor fünf Uhr in der Küche und trank seinen üblichen Kaffee ohne Zucker. »An einem Tag wie diesem bist du auf die Welt gekommen«, sagte Ursula zu ihm. »Alle erschraken über deine offenen Augen.« Er beachtete sie nicht, denn all seine Aufmerksamkeit war auf die Vorbereitungen der Truppe gerichtet, auf die Trompetensignale und Befehle, die den Tagesanbruch zerrissen. Wenngleich das alles ihm nach so vielen Kriegsjahren vertraut vorkommen mußte, fühlte er diesmal doch das gleiche Schwanken der Knie, das gleiche Erschauern der Haut, das er in seiner Jugend in Gegenwart einer nackten Frau erlebt hatte. Endlich in eine Falle der Sehnsucht gegangen, dachte er wirr, daß, hätte er sie geheiratet, er dann ein Mann ohne Krieg und Ruhm geworden wäre, ein namenloser Handwerker, ein glückliches Tier. Dieses späte Erzittern, das er nicht vorausgesehen hatte, verdarb ihm sein Frühstück. Um sieben Uhr morgens, als Oberst Gerineldo Márquez ihn in Gesellschaft einer Gruppe aufrührerischer Offiziere abholte, war er wortkarger, nachdenklicher und einsamer denn je. Ursula wollte ihm eine neue Wolldecke über die Schultern legen. »Was wird die Regierung denken«, sagte sie. »Sie werden denken, du hast dich ergeben, weil du dir nicht mal mehr eine Decke leisten konntest.« Doch er nahm sie nicht an. Als er, schon in der Tür, sah, daß es noch regnete, ließ er sich einen alten Filzhut von José Arcadio Buendía aufsetzen.
»Aureliano«, sagte nun Ursula, »versprich mir, daß, wenn du dort die verhängnisvolle Stunde erlebst, du an deine Mutter denkst.«
Er lächelte sie fremd an, hob die gespreizte Hand, verließ wortlos das Haus und bot dem Geschrei die Stirn, den Schmährufen und den Flüchen, die ihn bis zum Ende des Dorfes verfolgten. Ursula legte den Riegel vor die Tür, entschlossen, ihn für den Rest ihres Lebens nicht mehr zurückzuschieben. Wir werden hier drinnen vermodern, dachte sie. Wir werden in diesem männerlosen Haus wieder zu Asche, aber dieses erbärmliche Dorf soll uns nicht weinen sehen. Den ganzen Vormittag suchte sie in den geheimsten Winkeln ihres Herzens eine Erinnerung an ihren Sohn, fand sie aber nicht.
Die Feier fand zwanzig Kilometer von Macondo statt, im Schatten eines gewaltigen Baumwollbaums, um den später das Dorf Neerlandia gegründet werden
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