Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
Vom Netzwerk:
dem glutheißen Besuchszimmer mit seinem vom Leichentuch eines Bettlakens behüteten Pianolagespenst nahm Oberst Aureliano Buendía diesmal nicht in dem von seinen Adjutanten gezogenen Kreidekreis Platz, sondern setzte sich auf einen Stuhl zwischen seine politischen Ratgeber, und, in seine Wolldecke eingewickelt, hörte er schweigend die bündigen Vorschläge der Emissäre an. Zunächst baten sie, auf die Überprüfung der Landbesitzurkunden zu verzichten, um die Unterstützung der liberalen Landbesitzer wiederzugewinnen. Ferner baten sie, auf den Kampf gegen den Einfluß des Klerus zu verzichten, um den Rückhalt der katholischen Bevölkerung zu gewinnen. Endlich baten sie auf den Anspruch der Gleichberechtigung zwischen außerehelichen und rechtmäßigen Kindern zu verzichten, um den Bestand der Familie unangetastet zu lassen.
    »Das heißt also«, lächelte Oberst Aureliano Buendía, »daß wir nur um die Macht kämpfen.«
    »Das sind taktische Reformen«, wiederholte einer der Abgesandten. »Vorderhand kommt es darauf an, die Grundlage des Krieges auf das Volk auszudehnen. Dann sehen wir weiter.«
    Nun griff einer der politischen Ratgeber des Obersten Aureliano Buendía ein.
    »Das ist widersinnig«, sagte er. »Wenn diese Reformen gut sind, heißt das: Die konservative Regierungsform ist gut. Wenn wir mit ihnen die Grundlage des Krieges auf das Volk ausdehnen, wie Sie sagen, so heißt das, daß die Grundlage des Regimes weitgehend auf dem Volk beruht. Zusammengefaßt heißt das, daß wir fast zwanzig Jahre gegen die Gefühle der Nation gekämpft haben.«
    Er wollte fortfahren, doch Oberst Aureliano Buendía unterbrach ihn mit einem Wink. »Verlieren Sie keine Zeit, Doktor. Wichtig ist, daß wir von diesem Augenblick an für die Macht kämpfen.« Und weiter lächelnd nahm er die Schriftbogen, die ihm die Delegierten reichten, und machte sich ans Unterzeichnen.
    »Da es so ist«, schloß er, »steht unserer Unterschrift nichts im Wege.«
    Seine Männer blickten einander bestürzt an.
    »Verzeihen Sie, Oberst«, sagte Oberst Gerineldo Márquez sanft, »aber das ist Verrat.«
    Oberst Aureliano Buendía hielt die tintenfeuchte Feder in der Luft an und ließ das volle Gewicht seiner Autorität auf ihn niedersausen.
    »Übergeben Sie Ihre Waffen!« befahl er.
    Oberst Gerineldo Márquez stand auf und legte die Waffen auf den Tisch.
    »Melden Sie sich in der Kaserne«, befahl Oberst Aureliano Buendía. »Halten Sie sich zur Verfügung des Revolutionsgerichts.«
    Dann unterschrieb er die Erklärung und übergab den Abgesandten die Schriftbogen mit den Worten:
    »Señores, hier haben Sie Ihre Papiere. Wohl bekomm's!«
    Zwei Tage später wurde Oberst Gerineldo Márquez des Hochverrats angeklagt und zum Tode verurteilt. In seiner Hängematte liegend, war Oberst Aureliano Buendía taub für jedes Bittgesuch um Milde. Am Vorabend der Erschießung besuchte Ursula ihn trotz der Befehle, er wolle nicht gestört werden. Schwarz umhüllt und von seltsamer Feierlichkeit umstrahlt, blieb sie während der drei Minuten der Unterredung stehen. »Ich weiß, daß du Gerineldo erschießen wirst«, sagte sie gelassen. »Und ich kann nichts tun, um es zu verhindern. Doch eines sage ich dir: Sobald ich den Leichnam sehe, schwöre ich bei den Gebeinen meines Vaters und meiner Mutter, bei der Erinnerung an José Arcadio Buendía, schwöre ich bei Gott, daß ich dich holen werde, wo du auch stecken magst, und dich eigenhändig umbringe.« Und schloß vor dem Verlassen des Zimmers, ohne eine Antwort zu erwarten:
    »Genau das, was ich getan hätte, wärst du mit einem Schweineschwanz geboren worden.«
    In jener endlosen Nacht, während Oberst Gerineldo Márquez sich seine toten Nachmittage in Amarantas Nähstube in Erinnerung rief, kratzte Oberst Aureliano Buendía stundenlang an der harten Schale seiner Einsamkeit, ohne sie indes aufknacken zu können. Seine einzigen glücklichen Augenblicke seit dem fernen Nachmittag, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen, hatte er in der Goldschmiedewerkstatt verbracht, wo seine Zeit beim Herstellen von goldenen Fischchen vergangen war. Er hatte zweiunddreißig Kriege anstiften, hatte sämtliche Pakte mit dem Tod verletzen und sich wie ein Schwein auf dem Misthaufen des Ruhms wälzen müssen, um mit fast vierzig Jahren Verspätung die Vorrechte der Einfachheit zu entdecken.
    Bei Tagesanbruch, entnervt vom Wachen, erschien er eine Stunde vor der Erschießung in der Blockkammer. »Der Spaß ist

Weitere Kostenlose Bücher