Hundert Jahre Einsamkeit
der Annahme, er würde heimkehren, bereit, zwischen Remedios' muffigen Puppen geruhsam zu altern. In Wirklichkeit jedoch hatte er in den vergangenen zwei Jahren alle rückständigen Rechnungen, auch die des Alterns, bezahlt. Als er an der von Ursula mit besonderer Sorgfalt aufgeräumten Goldschmiedewerkstatt vorbeiging, merkte er nicht einmal, daß die Schlüssel in den Hängeschlössern steckten. Er gewahrte nicht den kaum merklichen herzzerreißenden Verfall, den die Zeit im Haus bewirkt hatte und der jedem Menschen, der seine Erinnerungen lebendig bewahrte, nach so langer Abwesenheit wie ein Verhängnis vorgekommen wäre. Ihn schmerzten nicht der von den Wänden abbröckelnde Kalk, nicht die schmutzigen Spinnetze in den Zimmerecken, nicht der Staub auf den Begonien, auch nicht die Termitenadern in den Balken, nicht das Moos auf den Türangeln, auch keine der heimtückischen Fallen, die ihm das Heimweh stellte. In seine Wolldecke gehüllt und ohne die Stiefel auszuziehen, setzte er sich in die Veranda, als warte er nur darauf, daß es sich aufklärte, und blickte den ganzen Nachmittag in den auf die Begonien fallenden Regen. Nun begriff Ursula, daß sie ihn nur kurze Zeit im Hause sehen werde. Wenn es nicht der Krieg ist, dachte sie, kann es nur der Tod sein. Es war eine so deutliche, so überzeugende Vermutung, daß sie sie einer Vorahnung gleichsetzte.
An jenem Abend beim Nachtmahl zerkrümelte der angebliche Aureliano Segundo das Brot mit der rechten Hand und löffelte seine Suppe mit der linken. Sein Zwillingsbruder, der angebliche José Arcadio Segundo, zerkrümelte das Brot mit der linken Hand und löffelte seine Suppe mit der rechten. Die Übereinstimmung ihrer Bewegungen war so haargenau, daß die beiden nicht etwa einander gegenübersitzende Brüder, sondern ein Spiegel von Spiegeln zu sein schienen. Das Schauspiel, das die Zwillinge ersonnen hatten, seit sie sich ihrer Gleichheit bewußt waren, wurde zu Ehren des Neugekommenen wiederholt. Doch Oberst Aureliano Buendía merkte es nicht. Er war allem so fremd, daß sein Blick nicht einmal auf Remedios der Schönen haftenblieb, die nackt ins Schlafzimmer ging. Ursula war die einzige, die seine Zerstreutheit nicht zu stören wagte.
»Wenn du wieder fort mußt«, sagte sie mitten in der Mahlzeit, »so erinnere dich wenigstens daran, wie wir heute abend waren.«
Jetzt wurde Oberst Aureliano Buendía sich ohne Verwunderung bewußt, daß Ursula der einzige Mensch war, der sein Elend zu ergründen vermocht hatte, und zum erstenmal in vielen Jahren wagte er, ihr ins Gesicht zu sehen. Ihre Gesichtshaut war rissig, ihre Zähne angefressen, ihr Haar verblichen und farblos und ihr Blick bestürzt. Er verglich sie mit seinen frühesten Erinnerungen von jenem Nachmittag, als er das Vorgefühl hatte, ein Topf mit brühheißer Suppe werde vom Tisch rutschen, und er ihn darauf in Stücken fand. In einem Lidschlag entdeckte er die Kratzer, die Risse, die Geschwüre und Narben, die ein halbes Jahrhundert des Alltags in ihr hinterlassen hatten, und stellte fest, daß diese Schäden in ihm nicht einmal ein Gefühl des Mitleids auslösten. Nun machte er eine letzte Anstrengung und suchte in seinem Herzen den Ort, wo seine Zuneigung vermodert war, konnte ihn aber nicht finden. Zu anderer Zeit hatte er zumindest ein wirres Gefühl der Beschämung empfunden, als er an seiner eigenen Haut Ursulas Geruch entdeckte, und mehr als einmal hatte er seine Gedanken von ihrem Denken durchkreuzt gefühlt. Doch all das war vom Krieg weggefegt worden. Selbst Remedios, seine Ehefrau, war in diesem Augenblick das verwischte Bild einer, die seine Tochter hätte sein können. Die ungezählten Frauen, die er in der Wüste seiner Liebe gekannt hatte und durch die sein Samen über den ganzen Küstenstrich verstreut worden war, hatten keine Spuren in seinem Gefühlsleben hinterlassen. Die Mehrzahl von ihnen hatte sein Zimmer im Dunkeln betreten und es vor Tagesanbruch verlassen, sie waren am nächsten Tag nichts als ein Anflug von Überdruß in seinem körperlichen Gedächtnis. Seine einzige Zuneigung, die Zeit und Krieg widerstanden hatte, war die für seinen Bruder José Arcadio empfundene, als beide Knaben waren, und diese gründete nicht auf Liebe, sondern auf Verschwörerschaft.
»Verzeih«, entgegnete er auf Ursulas Bitte. »Dieser Krieg hat mit allem aufgeräumt.«
An den zwei darauffolgenden Tagen machte er sich daran, jede Spur seines Erdenlebens zu tilgen. So ließ er in der
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