Hundertundeine Nacht
damals.
»Ich weiß nicht. Ich gehe lieber mal gucken. Käthe würde nie von selbst nach Hilfe rufen. Vielleicht bin ich noch pünktlich zum Anstoßen zurück. Falls nicht – schönes neues Jahr, Felix!«
Daß sie Käthe helfen wollte, war ausgesprochen nett von Renate, denn Renate hatte heute offiziell dienstfrei. Aber Käthe war seit Jahren ihre Freundin und würde mit ihrer Hilfe sicher schneller auf der Station fertig werden. Schwester Renate gab mir einen nicht nur freundschaftlichen Kuß und ließ mich, die Hände tief in den Taschen ihres schwarzen Wintermantels vergraben, mit einem ausdrucksvollen Schwung ihrer Hüften alleine vor dem ehemaligen Wirtschaftstrakt unserer Klinik stehen. Alleine stimmt nicht ganz – immerhin leistete mir noch Väterchen Frost Gesellschaft. Meine militanteren Nichtraucher-Kollegen wollten auch zu Silvester nicht vom Volkskiller Nr. 1, dem Passivrauchen, dahingerafft werden. Mein Hinweis, daß sich ohne den frühen Tod der aktiven Raucher ihre Rentenbeiträge mindestens verdoppeln würden, änderte ihre Haltung nicht.
Der Brauch, Silvester gemeinsam in der Klinik zu verbringen, hatte mit dem Jahreswechsel 1999/2000 begonnen. Angesteckt von der allgemeinen Hysterie, daß neben dem Weltuntergang auch der Ausfall unserer Stromversorgung, unserer Beatmungsgeräte, unserer Infusionspumpen und von tausend anderen lebenswichtigen Dingen, die abzusichern wir vielleicht übersehen hatten, drohte, war es seinerzeit zum Streit gekommen, wer vom Personal Silvester in der Klinik verbringen müsse. Und da wir uns nicht einigen konnten, beziehungsweise es schien, als beträfe das Problem potentiell sowieso fast jeden, hatte jemand vorgeschlagen, wir könnten doch einfach gemeinsam in der Klinik feiern und beobachten, wie am 1. Januar 2000 um null Uhr die Welt zusammenbricht.
Nichts dergleichen war geschehen, aber es wurde trotzdem ein lustiges Fest. Und da unser ehemaliger Wirtschaftstrakt nach dem Outsourcing von Wäscherei, Patienten- und Personalverpflegung ohnehin leerstand, hatten wir ihn mit dieser Nacht als großen Partykeller in Besitz genommen. Komplett mit Tischtennisplatte, Kickerspiel und einer Art Bar. Dr. Valenta von der Intensivstation hatte sogar einen ausgedienten Flipperautomaten organisiert und veranstaltet regelmäßige Turniere. Er besteht allerdings darauf, daß dabei um Geld gespielt wird – er ist uns im Flippern weit überlegen.
In der Winterluft um mich herum schwebte noch ein diskreter Duftrest von Schwester Renate, und ich hatte vorerst keine Lust, mich wieder unter die rauchfreie Silvestergemeinde zu mischen. Irgendein Raucher würde mir schon noch Gesellschaft leisten. Natürlich waren im Grund alle froh, daß sie nicht zu Hause für die obligatorische lustig ausgelassene Silvesterstimmung sorgen mußten, aber man kann andererseits zu Silvester kaum seine Kleinfamilie alleine zu Hause sitzen lassen.
Also ist unser Kliniksilvester keine um bunte Papierschlangen, selbstgemachte Salate und reichlich Alkohol erweiterte Personalversammlung, sondern eine Veranstaltung, an der die Familien unserer Mitarbeiter teilnehmen. Sie dürfen sich den ganzen Abend lustige Klinikgeschichten anhören und jedes Silvester aufs neue entsetzt sein, wie anhaltend wir immer wieder über »die blödeste Fehldiagnose des Jahres« oder »die unnötigste OP des Jahres« lachen können und daß auch ein Arzt durchaus zwischen hübschen und weniger hübschen Patientinnen zu unterscheiden vermag.
In meinem Rücken ging die Tür auf, gedämpftes Lachen drang in die Nacht. Dann hielten mir warme Hände die Augen zu, und ein gut bekannter Körper schmiegte sich an mich.
»Endlich, Marlies, warum hast du mich so lange warten lassen? Oder bist du es, Sieglinde?«
»Hat Sexy-Renate dir nicht gereicht?«
»Du weißt, wie sehr ich Liebe brauche. Ich rede nicht gerne davon, aber Celine ist frigide.«
Ich bekam einen Tritt gegen das linke Schienbein.
»Der einzige, der hier kalt ist, bist du!«
Meine Freundin Celine nahm ihre Hände von meinen Augen, drückte meine Zigarette aus und gab mir einen Kuß. Aber nur einen kurzen.
»Ich kann es spüren – du hast Renate geküßt!«
Auch das rechte Schienbein bekam seinen Tritt. Wahrscheinlich hatte Celine es nicht gespürt, aber geschmeckt. Schwester Renate benutzt diese Lippenstifte mit Geschmack. Heute war es, glaube ich, Pfirsich-Maracuja gewesen.
»Das stimmt nicht. Ich habe sie nicht geküßt. Sie hat mich geküßt. Ich
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