Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Gliedmaßen, wurden durch Erschlaffung und Schwerkraft zusammengedrückt, sie schoben sich dichter an-und aufeinander, sie ließen sich aufeinander nieder wie ermattete Vögel. Die Moleküle im Gewebe seines Körpers hielten inne in ihrem rasenden Umeinander und sanken zu Boden: Sowtschick schlief ein.

    E rst gegen vier Uhr wachte Sowtschick auf. Langsam, dann immer schneller wurde sein Körper angekurbelt. Die Moleküle erhoben sich vom modrigen Grund des Schlafes und zogen zuerst matt, dann kräftiger ihre Bahn, nach denselben Gesetzen etwa, wie Sterne am Firmament es tun. Wer das nachweisen könnte, daß die Moleküle des Fleisches sich nach denselben Gesetzen umeinanderdrehen, wie die Gestirne, der würde die Krone der Wissenschaft empfangen, dies war Sowtschicks Ansicht. Das All in uns und das All um uns. Eine Ver-Allung der ganzen Existenz.

    Sowtschick lag schwer und erhitzt auf seinem Bett. Er wußte: Er hatte zu lange geschlafen, das würde sich in der Nacht rächen. In die flirrende Pappel vor seinem Fenster blickend, ließ er die Bilder des Traumes, der ihn eben beschäftigt hatte, an sich vorübergleiten. Wieder war es der Kriechtraum gewesen, der ihn so häufig heimsuchte, durch einen Felsspalt hatte er sich zwängen müssen, immer in Gefahr, steckenzubleiben. Als die Eheleute noch nebeneinander schliefen, sie das Haar zum Zopf gedreht und seitlich auf dem Kissen deponiert, er in «Königshaltung», also auf dem Rücken liegend, geschah es manchmal, daß er im Traum zu mümmeln begann. Dies war der Vorbote dafür, daß es gleich hoch hergehen würde. Das sich rasch verstärkende Mümmeln mündete nämlich in sehr laute Hilfeschreie, die Sowtschick auch dann noch ausstieß, wenn er merkte, daß er bereits aufgewacht war: Seine Frau sollte wissen, daß er es selbst im Schlaf nicht leicht hatte.

    Sowtschick griff nach einem Buch, um sich vollends aufzuwecken, es waren Baudelaires Tagebücher, und er las nur wenige Zeilen: Von jungen Mädchen war da die Rede, daß sie kleine Schlunzen seien. In ihnen liege die ganze Verworfenheit von Straßenjungen und Pennälern … Dies belebte ihn. Er erhob sich und stellte sich, die Hosen anziehend, ans Fenster. Die knospende Schönheit, die es nicht nötig hat, sich herauszuputzen, die sich rüde geben kann und unvermittelt: Das war es, was ihn an kleinen Mädchen so entzückte.

    Einen weiten Blick hatte Sowtschick von seinem Fenster aus über einen Teil des Gartens hinweg, über Wiesen und Kornfelder bis hin zum Wald, dem sich ein Sandweg mit zögernden Rechts-und Linksschwüngen entgegenschlängelte.

    Auf den Fensterbänken des Obergeschosses hatte Sowtschick verschiedene Ferngläser stehen. Mit dem im Schlafzimmer deponierten Hapag-Fernglas von 1923 suchte er den sichtbaren Rand der Landschaft ab. Vielleicht ließen sich ja die beiden Pferdemädchen sehen, die hin und wieder in weitem Bogen um sein Haus herumjagten: die eine blond, die andere krisselig-schwarz, entzückende Kinder, zwölf, dreizehn Jahre alt, Raubritter, wie er sie auch nannte, ganz im Sinne der Baudelaireschen Definition: Kleine freche Schlunzen, wild und erregend. Die beiden hatten übrigens nur ein Pferd zur Verfügung, ein Pony. Jeweils eines der Mädchen war gezwungen, auf dem Fahrrad hinterherzustrampeln.

    Die Mädchen waren nicht zu sehen, und auch vom Bad aus nicht, wo Sowtschick mit einem perlmuttbeschichteten Opernglas den Waldrand absuchte. Nur Kühe waren zu betrachten auf der benachbarten Weide, wo sie mit ihren runden Bäuchen impressionistisch auf der Wiese lagen und verdauten, den Kopf der Sonne abgewandt.

    Er ging hinunter in die Küche, um sich Kaffee zu machen. Die Hunde begrüßten ihn, als hätten sie ihn tagelang nicht gesehen. Die Corgies sprangen wie Gummibälle an ihm empor, und Percy stieß mit der Schnauze an seinen Unterarm, er solle doch nicht so sein, er solle doch mal eben mit rauskommen. Sowtschick beutelte die Tiere ein wenig, aber dann schickte er sie fort, strenger als nötig. Er hatte Kaffee zu machen, und das hatte was mit Pflicht zu tun, und laut schimpfte er vor sich hin, weil er die Kaffeemaschine nur über eine Stuhllehne hinweg bedienen konnte, wobei er in einen Korb mit Kartoffeln trat. Auch reichte der gemahlene Kaffee in der Dose nur für eine einzige Tasse, weswegen Sowtschick in der Speisekammer «eine Suchaktion starten» mußte, wie er es schimpfend ausdrückte: «Muß man hier eine Suchaktion starten, nur weil man eine Tasse Kaffee trinken

Weitere Kostenlose Bücher