Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
im Café, sonntäglich frisch. Einige Trinker standen an der Theke, ältere Männer in gebügelten Hemden, mit schäbigen Krawatten um den Hals. Daneben eine Gruppe Araber und elegant gekleidete Schwarze. Er biss ins Brot, nahm einen Schluck vom bitteren Kaffee mit der schaumigen Milch.
Es kamen zwei Männer herein im weißen Gewand der Fleischträger, der eine um die fünfzig, der andere ungefähr zwanzig. Sie traten zum Regal mit den Abteilen und nahmen Esswaren heraus. Sie setzten sich ans Tischchen neben Hunkeler, tranken einen Schluck vom Bier, das ihnen die Wirtin hinstellte, aßen Brot und Wurst, müde und schweigend. Der Zwanzigjährige hatte ein ziemlich großes Gesicht und Leberflecken beidseits der Nase, und in seinem linken Ohr steckte ein kleiner Ring.
Hunkeler starrte ihn an, ungläubig, er hatte nicht mehr gehofft, ihn zu finden. Aber jetzt saß er da, direkt neben ihm, mit breiten Schultern und gekraustem Haar.
Er konnte die Augen nicht wegnehmen von ihm, er hatte für einen Moment die Fassung verloren. Bis der junge Mann den Blick hob und ihn direkt anschaute mit hellen Augen, ein Flattern darin.
»Monsieur?«, fragte er.
Da schüttelte Kommissär Hunkeler den Kopf. »Non«, sagte er, »c’est rien.«
Er blieb reglos sitzen, ruhig atmend, bis er merkte, dass der junge Mann den Blick von ihm wegnahm. Er wäre gern zu ihm hingegangen, um mit ihm zu reden, ihm zu helfen mit gutgemeinten Ratschlägen. Er freute sich nämlich unheimlich, der Kriminalkommissär Hunkeler, den jungen Herrn Lerch anzutreffen, den wackeren Fleischträger, der sein eigenes Abteil im Regal des Café Dejean besaß.
Er ließ es bleiben. Es ging einfach nicht. Selbst das blaue Heft, das ja für ihn bestimmt war, für Freddy Lerchs unternehmungslustigen Großneffen und Haupterben, konnte er ihm nicht übergeben. Nicht einmal ins Regal drüben neben der Theke konnte er es legen, wenn die beiden Fleischträger das Lokal verlassen hätten. Denn das wäre ein frevelhafter Eingriff ins Geschehen gewesen, welches sich offensichtlich zum Guten entwickelte, denn der junge Mann hätte Verdacht geschöpft und wäre möglicherweise weitergeflohen, bis hin an einen Ort, wo es ihm nicht mehr so gutging. Jetzt ging es ihm gut, man musste ihn laufenlassen. Und vielleicht hatte er Glück.
Leise erhob sich Hunkeler, er schaute nicht mehr hinüber zum Nebentisch. Als er draußen war, auf dem Markt, inmitten der Farben, mittendrin im Geschrei der Verkäufer und Käuferinnen, versuchte er ganz kurz zu jauchzen. Nicht zu laut, einfach nur so, ein bisschen bloß, damit es nicht auffiel. Es kam nur ein heiseres Husten, er hatte zu viel geraucht.
Auf dem Gare du Nord trank er einen Marc de Bourgogne, bedachtsam den Duft auskostend. Wie Honigholz. Er fühlte sich leicht. Einmal hob er den linken Arm an seine Nase, schnupperte daran. Das war kein fremder Geruch, was da auf seiner Haut lag, das war sein eigener, alt und vertraut. Nur ein leiser Hauch von Zimt und Pfeffer lag darüber.
Es war Sonntagabend, als er seine Wohnung wieder betrat. Der Ahorn im Hinterhof stand im Regen. Der Wind griff in die Äste, zerrte sie nach Osten, die Blätter flatterten. Er öffnete den Eiskasten, nahm ein Bier heraus und setzte sich an den Tisch. Er überlegte lange, hörte dem Wind draußen zu, den kühlen Abendfingern.
Er erhob sich und rief Hedwig an, um sie ins Sommereck einzuladen.
»Danke für die Karte«, sagte sie, »sie hat mir gut gefallen.«
»Ich muss dir etwas erzählen.«
Sie erschrak. »Ist es schlimm?«
»Überhaupt nicht«, sagte er, »im Gegenteil. Ich rieche wieder wie früher.«
Sie lachte und legte auf. Er holte das blaue Heft aus der Tasche, ging zum Eiskasten und öffnete das Gefrierfach. Flundernfilets lagen darin, Käsküchlein, Spinat, alles tiefgefroren, fingerhoch mit weißem Eis bedeckt. Er schob das blaue Heft obendrauf und schloss wieder zu.
Am andern Morgen, als er sich rasiert und geduscht hatte – er musste ja wieder angreifen, schließlich war er Kriminalkommissär, und es gab noch einige anstehende Fälle zu lösen –, schaute er noch einmal hinein. Das Heft lag noch da, von einer zarten Eisschicht bedeckt, durch welche die blaue Farbe schimmerte.
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Foto: © Bastian Schweitzer/Diogenes Verlag
HANSJÖRG SCHNEIDER, geboren 1938 in Aarau, arbeitete nach dem Studium der Germanistik und einer Dissertation unter anderem als Lehrer, als Journalist und am Theater. Mit seinen Theaterstücken ist er einer
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