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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schneider
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Heft aus der Tasche, öffnete es und schrieb einen Satz hinein, den er merkwürdig fand: »Nur eine einzige Art von Gerechtigkeit ist gut und nützlich. Es ist die Gnade.«
    Befriedigt versorgte er das Heft wieder. Immerhin ein Satz, den er aufgeschrieben hatte. Er hatte vor, weitere Sätze zu notieren. Er war auf der Lauer nach merkwürdigen Sätzen, wie damals, als er schreibend in dieser Stadt gelebt hatte drüben am linken Ufer. Es war zwar nichts Rechtes daraus geworden, er hatte die notwendige Konsequenz nicht aufgebracht. Aber aufgeschrieben, dachte er, ist aufgeschrieben, ein Wort ist ein Wort.
    An der Theke standen Araber, behende diskutierend. Links an einem der schmalen Tischchen saßen zwei Schwarze mit einer blonden Frau, die ihnen irgendeine Geschichte aus Marokko erzählte. Ein Abenteuer auf einer Jeepfahrt zu zweit, wie Hunkeler verstand, im Atlas unter Beduinen.
    Zwei Männer kamen herein im weißen, blutverschmierten Berufsgewand der Fleischträger. Wie früher, dachte er, als er in den Hallen nächtelang halbe Schweine herumgeschleppt hatte. Gebannt schaute er zu, wie die beiden zum Regal neben der Theke gingen und Esswaren aus einem der Abteile, das offenbar ihnen gehörte, nahmen. Sie setzten sich, die Wirtin brachte Bier, sie aßen und tranken. Frisches, knuspriges Brot, Käse und Wurst. Sie schwiegen beide, sie waren wohl müde. Ganz alltäglich, eine gut eingespielte Selbstverständlichkeit.
    Hunkeler trat hinaus, ging den Boulevard Barbès hinauf und mietete im Hotel Dorée ein Zimmer. Ein Etablissement, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, mit falschem Marmor und geschwungener Treppe im Foyer, mit Säulen und Girlanden. Am Empfang saß eine Mulattin in seinem Alter, ein Café au lait mit tiefer Stimme und breitem Lachen.
    Beim Hinaufsteigen hörte er Musik. Sie kam aus verschiedenen Zimmern. Arabische Lieder, seltsam fremd, Musik aus der Karibik, eine endlose Folge einfacher Strophen, mit monoton gehämmertem Rhythmus.
    Diese Musik begleitete ihn durch alle fünf Tage und Nächte, die er im Viertel verbrachte. Sie schien aus allen Fenstern zu strömen, ein helles, begütigendes Wasser. Sie wiegte ihn des Nachts in den Schlaf und weckte ihn am Morgen, ein immerwährendes Erzählen, Lachen und Trauern. Die ›Islands in the Sun‹ schienen aufzutauchen mitten in Paris, ein Bananenboot, ein Windjammer mit weißen Segeln.
    Einmal schrieb er an Hedwig. Er saß im Café Le Celtique auf der anderen Seite des Boulevards, als ihm wieder ein Satz einfiel. Der gehört nicht mir, dachte er, der gehört meiner Freundin. Er holte am Schalter, wo Tabak verkauft wurde, eine Ansichtskarte samt Postmarke, setzte sich wieder und schrieb auf die Rückseite: »Das mit den drei Gründen, warum ich dich liebe, stimmt nicht. Es gibt nur einen einzigen Grund. Weil du ein Seetier bist, eine Salzwasserfrau.«
    Er fuhr nur einmal hinüber ans linke Ufer. Das war am Abend des letzten Tages. Er nahm die Metro bis St. Michel. Dort stieg er aus, weil er vorhatte, durch die Rue des Arts zu wandern bis zum Carrefour de Buci. Er fand den richtigen Ausgang nicht, er irrte herum. In einem Nebengang rannte ihm ein Mädchen entgegen. Sie packte ihn, sie hatte erstaunlich viel Kraft. Eine junge Frau, dachte er, die ist in Not.
    »Venez vite«, sagte sie, »kommen Sie, Monsieur. Helfen Sie.«
    Sie war schneeweiß im Gesicht.
    Er machte sich los, er wollte nichts wissen von Hilfe, er war nicht im Dienst. Aber sie packte ihn wieder, riss ihn mit sich, schob ihn von hinten.
    Nach einer Biegung des Ganges sah er, was los war. Drei Burschen hatten ein Mädchen gepackt. Sie klebte an der Wand, festgehalten von kräftigen Männerarmen, die Jeans hatten sie ihr heruntergerissen. Sie kicherte blöde, hysterisch, als ginge sie das alles nichts an. Aus einer Männerhose ragte der Penis.
    Hunkeler schrie, er hatte sich noch nie so schreien hören. »Non, êtes-vous foux?«
    Das dröhnte im Gang, er hörte seine Stimme, zurückgeworfen von den gekachelten Wänden. Das Mädchen schob ihn, er musste hin, ob er wollte oder nicht. Er machte ein paar Schritte, unsicher, ängstlich. Dann packte ihn der Hass, die Wut.
    »Saucheibe, salauds, espèces de cochon!«, schrie er, bereit zum Kampf mit Fäusten und Tritten. Er rannte beinahe die letzten Meter.
    Es ging alles blitzschnell. Die Burschen waren weg, ehe er sie erreicht hatte. Der eine mit wippendem Stengel, er zog sich im Laufen den Reißverschluss zu. Dann war nur noch die junge Frau da, die,

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