Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
dass jedes Eingreifen verboten schien. Er hätte eigentlich schon beim Flattern des Mannes, bei seinem Aufklatschen und Verschwinden reagieren müssen. Er hätte die Treppe hinunterrennen, beim unteren Einstieg ins Wasser springen und mit aller Kraft hinausschwimmen müssen, um den Mann zu retten. Er hätte ihn am Rockkragen packen, ihn, hätte er sich verzweifelt gewehrt, in den Doppelnelson nehmen und ihn so ruhigstellen müssen, bis er ihn wie einen schlaffen Sack ans Ufer hätte bringen können, darauf achtend, die fremde Nase über dem Wasserspiegel zu halten. Hunkeler hatte das in seiner Jugend gelernt, er war Rettungsschwimmer. Und immer noch war er so fit, dass er einen Mann ohne weiteres vor dem Ertrinken retten konnte.
Aber was er gesehen hatte, hatte ihm jede Entschlusskraft geraubt. Das war ein Einbruch gewesen in diesen alltäglichen, sonnigen Sommermorgen, das Eindringen von etwas anderem, Ungeahntem, fast Heiligem. Da hatte der Tod zugegriffen, mitten in Basel, im Rhein. Denn offensichtlich war der alte Mann nicht zufällig, aus Unvorsichtigkeit oder Übermut, in den Fluss gefallen. Dafür war das Geländer dort oben zu hoch. Er war hinübergeklettert und hatte sich hinabgestürzt, weil er sterben wollte. Dieser Wunsch zu sterben war es, der Hunkeler lähmte, der ihn erschrecken ließ, ihm Ehrfurcht abverlangte, auch wenn klar zu erkennen gewesen war, dass den Mann schon im Stürzen die Angst gepackt hatte, die Angst vor dem unbekannten Tod. Und jetzt kämpfte er dort draußen um sein Leben. Er hielt sich wacker, er war noch immer nicht endgültig untergegangen, sein Kopf trieb Richtung Dreirosenbrücke der französischen Grenze entgegen. Es war zu spät, um einzugreifen, er war schon zu weit hinabgetrieben. Er lag mitten im Fluss, wo die Strömung am stärksten war.
André kam heran, der Abwart des Rheinbades, wie immer in der zu schmalen Badehose mit den Leopardentupfern drauf. »Hast du das gesehen?«, fragte er. Hunkeler nickte.
»Der ist freiwillig hinab«, sagte André, »da bin ich ganz sicher. Ich habe den Schrei gehört. Ich war wie gelähmt.«
»Ich auch.«
»Holen wir ihn?«
»Nein. Es ist zu spät. Lauf hinauf zur Telefonkabine und ruf die Polizei an. Nummer 117. Und die Sanität. Es sei ein Mann ins Wasser gefallen.«
»Wieso rufst nicht du an?«, fragte André. »Du bist ja Polizist.«
»Dort unten«, Hunkeler zeigte flussabwärts, wo die großen Passagierschiffe lagen, »dort unten holt ihn einer heraus. Ich will dabei sein, wenn er ihn bringt.«
André schaute hinunter. Ein kleines Ruderboot, das offenbar zu einem der weißen Kähne gehörte, wurde mit kräftigen Schlägen hinausgerudert, direkt auf den schwimmenden Körper zu. Ein junger Mann mit schwarzer Wollmütze saß darin.
»Geh jetzt endlich«, sagte Hunkeler, »ich bin schließlich nicht im Dienst, ich habe Urlaub. Sie sollen die Rheinpolizei vorbeischicken, mit dem Beatmungsgerät.«
Er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, André war weg.
Hunkeler stand immer noch am Geländer und schaute flussabwärts. Es war ein Hafenschiffchen, das auf den kaum mehr wahrnehmbaren Kopf zutrieb, keine drei Meter lang und flach aufliegend, wie sie hinten an den Rheinkähnen hingen und bei Bedarf hinuntergekurbelt werden konnten. Es schaukelte heftig in den Wellen des Kieslasters, der Richtung Mittlere Brücke stampfte. Der Mann mit der schwarzen Mütze ruderte regelmäßig, mit viel Zug. Dann hatte er den Kopf erreicht. Hunkeler sah, wie sich zwei Arme zum Wasser hinunterstreckten, wie sie etwas packten und einen schweren Leib an Bord zerrten. Dann setzte sich der Mann mit der Mütze wieder hin, packte die Ruder und trieb das Boot dem Ufer zu.
Hunkeler trat zum Tisch, an dem er morgens kurz nach neun, wenn Frau Lang den Kiosk geöffnet hatte, Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen pflegte. Er setzte sich hin, den Rücken an die Holzwand der Frauenkabinen gelehnt, die Füße auf der Bank. Hockstellung, dachte er, so hat man früher die Menschen beerdigt. Er spürte die Sonne auf dem Bauch und im Gesicht, wohlig warm, seine Haut war inzwischen trocken geworden. Über die Johanniterbrücke rollte der Verkehr, träge wie der Fluss. Es stimmt, dachte er, ich habe Urlaub. Drei Wochen, und das in der schönen Sommerzeit, in der halb Basel ans Meer verreist ist. Die Stadt gehört mir und der Rhein auch. Und überall freundliche Gesichter. In den Beizen wirst du zuvorkommend bedient, weil sie halb leer sind, und in der Kunsthalle sitzen
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