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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schneider
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schwungvoller Geste, er fühlte den Alkoholduft in seine Nase aufsteigen. Ein guter Geruch, zuverlässig und tröstlich. Immerhin das. Dann ließ er den Schnaps langsam in seine Kehle rinnen.
    Die Straße war beidseitig überstellt mit Tischen und Stühlen. Touristen saßen da, junge und alte, viele Amerikaner. Es waren auch Schweizer darunter, er erkannte sie an den verkniffenen Gesichtern. Er grinste bitter, womöglich hatte auch er ein solches Gesicht.
    Er dachte über die Liebe nach, die verletzende, brutale, tödliche. Übers Geschlecht, das die Menschen bestimmte, ob sie wollten oder nicht. OMBRE DE MON AMOUR , fiel ihm ein, so hatte ein Gedichtband von Apollinaire geheißen, den er damals gelesen hatte. Schatten meiner Liebe.
    Er nahm das rote Heft aus der Jackentasche und schrieb hinein: »Zwei junge, schöne Vögel, die fliegen wollen, abheben, sich hochschwingen ins Blau des Himmels. Es gelingt ihnen nicht. Sie werden verletzt.«
    Das war Kitsch, fiel ihm auf, aber das war ihm gleich. Denn jetzt merkte er, dass er weinte.
    Als er zurückgefahren war zum Château Rouge, kaufte er bei einem Algerier, mit dem er sich angefreundet hatte, ein Sandwich, setzte sich auf eine Bank und aß. Die Autos glitten im Schritttempo vorbei, mehrere Reihen nebeneinander. Ein monotones Rauschen, nur manchmal knatterte ein Motorrad los.
    Eine Frau kam auf ihn zu, nickte freundlich und setzte sich neben ihn. Sie wollte zehn Francs haben, für den Bus. Er gab sie ihr, und sie behauptete, die Schweizer seien die nettesten Männer der Welt, weil sie so freigebig seien. Sie sah ein bisschen wild aus, verwahrlost. Oben links fehlte ein Zahn.
    Sie hieß Nadine, und sie nannte ihn Pierrot. Er ging mit ihr ins Café le Commerce, sie tranken eine Flasche Wein zusammen. Sie gefiel ihm, ihr schnelles Denken, die Genauigkeit ihrer Augen. Er merkte zu seiner Verwunderung, dass auch er ihr gefiel.
    Sie erzählte dauernd, als ob sie schon längst nicht mehr zu Wort gekommen wäre. Sie schimpfte ordinär, vor allem über die Fundamentalisten in Algerien, les cochons. Offenbar hatte sie 14 Jahre drüben im Maghreb gelebt, in Annaba an der Küste, in einem weißen Haus mit einem Maler zusammen. Wie billig das Leben dort drüben gewesen sei, und was für ein Licht! Aber der Maler, le salaud, war verduftet nach Rom, und zwar wegen der Fundamentalisten, les cochons, die seine Ansichten nicht mehr ertragen und ihn am Leben bedroht hätten. Und eine alleinstehende Frau sei dort drüben nichts wert, besonders eine Europäerin, die keinen Schleier tragen wolle, elle vaut rien. Nicht wie bei uns, nicht wahr, Monsieur?
    Sie grinste, er grinste zurück.
    »Es ist überall das Gleiche«, sagte sie, »partout de la merde. Und Sie, Monsieur Pierrot, was machen Sie?«
    Er sei Beamter, sagte er, in der Basler Verwaltung.
    Sie lachte, sie schüttelte den Kopf. Das hätte sie ihm wirklich nicht angesehen. Er habe so lebendige Augen, ein bisschen traurig zwar. Aber immerhin, des yeux vifs.
    Sie kam mit ins Hotel, er musste sie nicht einmal einladen dazu. Selbstverständlich, wie eine zugelaufene Katze. Im Zimmer umarmte sie ihn, ohne zu zögern. Ihr Leib roch seltsam. Wie die Kasbah, wie Zimt und Pfeffer. Sie fing plötzlich an zu rammeln, wild und fast herzlos, und er gab sich alle Mühe und rammelte zurück.
    Als er am andern Morgen erwachte, war sie verschwunden. Nur noch ihr Duft hing im Bett. Nur die Musik, die durchs offene Fenster hereindrang.
    Er packte seine Tasche, ging hinunter und bezahlte.
    »Au revoir«, sagte die Frau am Empfang, »und kommen Sie bald wieder, mit oder ohne Begleitung.« Sie strahlte ihn an.
    Er wanderte über den Boulevard, gemächlich, behutsam. Er genoss den Morgen, die süße Frühe des Tages.
    In einer Bäckerei kaufte er eine halbe Baguette und ging damit über den Markt, kauend, schauend. Die Fische, das Fleisch. Das Obst, das Gemüse. Die hohen Frauen, kräftig und stolz.
    Er betrat das Café Dejean und bestellte am Tisch gleich neben der Tür einen Café au lait. Dann nahm er das rote Heft aus der Tasche, öffnete es und schrieb sorgfältig hinein: »Was ist glückliche Liebe? Nichts. Sie langweilt nach wenigen Tagen. Was ist unglückliche Liebe? Alles. Sie hält ein Leben lang an.« Er wollte das Heft schon versorgen, aber da fiel ihm noch etwas ein: »Ich werde jedes Jahr hierherkommen, und wenn ich achtzig Jahre alt werde. Denn ganz Paris träumt von der Liebe. Und die Liebe befiehlt.«
    Es war eine aufgeräumte Stimmung

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