Hurra, wir leben noch
Stunde bildete er sich. Er las eine Würdigung des Dichters Bertolt Brecht, der im August dieses Jahres gestorben war, sowie Kritiken der Bücher ›Die Wurzeln des Himmels‹ von Romain Gary (da geht es um einen Mann, der will die Ausrottung der Elefanten in Afrika verhindern, ich muß unbedingt auf eine Safari, meinen Elefanten schießen! dachte Jakob), sowie ›Die Dämonen‹ von Heimito von Doderer (eine Hymne, diese Besprechung, ein wirklicher Dichter, na ja, ein Wiener natürlich!) und des Theaterstücks ›Blick zurück im Zorn‹ von John Osborne. (Ich weiß nicht, ich kann nicht im Zorn zurückblicken, er kann es offenbar, dachte Jakob.)
In der zweiten halben Stunde las er Kinoprogramme. Angelaufen waren ›Baby Doll‹, ›Der Hauptmann von Köpenick‹ (mit dem Heinz Rühmann, den sehe ich so gerne!), ›Ich denke oft an Piroschka‹ (und ich an den Hasen, ach, verloren, verloren, die wird jetzt die Frau eines Filmschönlings! Was soll mir Glück, was soll mir Geld, wozu hetze ich mich überhaupt ab wie ein Irrer und hocke jetzt da? Für die Edle vielleicht? Einsam ist der Mensch, allein, ausgesetzt dem Leben, der hat doch ganz recht, dieser Dings, dieser Osborne, und ich blicke
auch
zurück im Zorn! Jetzt warte ich eine Stunde, jetzt reicht’s mir!).
Jakob ging in das Zimmer der Sekretärin des Persönlichen Referenten. Hier lief leise ein Radio, Jakob hörte einen Schmalztenor: »Arrivederci, Roma …«.
Der Schlager des Jahres.
»Hören Sie, liebe Dame, ich warte jetzt …«
»Es tut mir leid, Herr Formann, aber der Herr Persönliche Referent hat noch etwas ganz Dringliches zu erledigen …«
»Dann soll man mich nicht um siebzehn Uhr bestellen!« lärmte Jakob. »Ich habe meine Zeit nicht gestohlen! Das ist ein Skandal!«
»Whatever will be, will be …«
Ein anderer Schlager des Jahres.
Eine dick gepolsterte Tür ging auf.
»Was ist ein Skandal? Wer schreit denn hier so herum?« fragte gereizt ein Hüne von Mann, tadellos gekleidet, mit unmutig hochgezogenen Augenbrauen.
»Also, das ist doch nicht wahr«, sagte Jakob entgeistert. Pfote, wo bist du? »Was ist nicht wahr, Herr Formann?« fragte der tadellos gekleidete Hüne. Er war ein alter Bekannter von Jakob. Es war der ehemalige Wehrwirtschaftsführer Herr von Herresheim, den Jakob mit seinen Saufkumpanen und blonden Buben aus der NIBELUNGENTREUE am Tegernsee vertrieben hatte.
»… the future’s not our’s to see, que serra, serra …«
24
»Haben Sie sich denn jetzt über unser Wiedersehen beruhigt, Herr Formann?«
Fünf Minuten später, in dem prachtvoll holzgetäfelten Büro des Persönlichen Referenten Herrn von Herresheim. Derselbe saß hinter einem riesigen Schreibtisch, Jakob davor.
»Nein!«
»Nein?«
»Jetzt kapiere ich, warum man meinem Ersuchen jahrelang nicht stattgegeben hat, warum hier jahrelang für mich niemand zu sprechen gewesen ist, warum niemand meine Briefe beantwortet hat, wenn einer wie Sie hinter so einem Schreibtisch sitzt.«
»Donnerwetter, Herr Formann, Sie kapieren aber schnell.«
»Sie haben auch überhaupt keinen Besuch oder zu tun gehabt! Sie haben mich einfach so eine Stunde lang warten lassen! Absichtlich!«
»Herr Formann, Sie überschlagen sich, Sie sind ein Genie, wie können Sie das alles so rasch begreifen?« Der von Herresheim lehnte sich in seinem schönen geschnitzten Lehnstuhl zurück und betrachtete Jakob lächelnd, die Fingerspitzen aneinandergepreßt.
»Wozu haben Sie mich hergebeten? Nur um mir zu zeigen, daß mein Ersuchen abgelehnt ist?« fragte Jakob lauernd.
»Können Sie Gedanken lesen, Herr Formann?«
»Herresheim …«
»
Herr
von Herresheim bitte.«
»Herresheim!« Gott, wird mir warm! Pfote. Pfote drücken. Drücken. Was ist das? Das ist meine Narbe an der Schläfe. Die pocht. Mit Recht. Ich poche … äh, koche auch! »Mit mir kann man so was nicht machen, verstehen Sie? Ich bin nicht irgendwer, Herresheim! Ich bin ein Mann, den die ganze Welt kennt und achtet!«
»Sie haben eine sehr gute Meinung von sich, Herr Formann.«
»Habe ich auch! Und Millionen Menschen haben die gleiche, sie bewundern mich, danken mir!«
»Wie schön. Ich nicht.«
»Was Sie nicht?«
»Ich bewundere Sie nicht. Ich danke Ihnen nicht.«
»Ach, so läuft das! Rache, wie?«
»Rache? Welch absurder Gedanke, Herr Formann! Nur Pflichtbewußtsein. Ich bin meinem Staatssekretär gegenüber verantwortlich. Er hat meine Ansicht zu Ihrer Bitte eingeholt. Ich mußte Ihre Bitte nach
Weitere Kostenlose Bücher