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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Schnaufer. «Er ist zu mir zurückgekehrt,
soweit ihm das möglich war, emotional, meine ich. Es hielt ein paar Jahre an - die
Distanz -, und ich glaube, dann dachte er nicht mehr an sie, oder wenn doch, hatte
sie ihre Macht verloren.»
    «Ich verstehe»,
sagte ich. Ich verstand wirklich. Die Pause. Ich versuchte angestrengt, mich an
das Sonett 129 zu erinnern.
Es beginnt mit: «Des Geistes Aufwand bei der Schandt hat Plan», und dann die Worte
über die Lust, «Wird bei der That zur Lust». Irgendwo die Worte «blutig, treulos,
mördrisch, voll von Wahn ...»
     
    «... und kaum
errungen, Wird sie gehasst ...»
     
    Weiß nicht,
weiß nicht ... dann:
     
    «Begehrend
toll und toll auch im Genuß; Stets zügellos, verlangend wie gestillt; Im Kosten
Glück, gekostet nur Verdruß; Im Anfang Wonne, dann ein Traum so wild: Das weiß die
Welt, doch Keiner weiß zu meiden Den Himmel, der uns führt zu Höllenleiden.»
    «Wer war sie,
Mama?»
    «Spielt das
eine Rolle?»
    «Nein, vielleicht
nicht», log ich.
    «Sie ist tot»,
sagte meine Mutter. «Sie ist seit zwölf Jahren tot.»
    Als ich an
diesem Abend den Hausschlüssel ins Schloss steckte, spürte ich eine Präsenz auf
der anderen Seite der Tür, ein schweres, dräuendes Wesen, greifbar und lebendig,
das da stand wie ich, mit erhobener Hand. Ich stand auf der Schwelle und hörte mich
atmen, spürte die kühler werdende Nacht auf meinen nackten Armen, hörte nicht weit
entfernt ein einsames Auto anspringen, aber ich bewegte mich nicht. Es auch nicht.
Dumme Tränen stiegen mir in die Augen. Schon einmal, vor Jahren, hatte ich denselben
massigen Körper zu Hause am Fuß der Treppe gespürt, ein wartendes Echo. Ich zählte
bis zwanzig, zögerte es noch weitere zwanzig Takte hinaus, dann stieß ich die Tür
auf und drehte das Licht an, um in die vernünftige Leere der Diele zu treten. Es
war weg. Dieses Ding, das kein Aberglaube, keine unbestimmte Ahnung, sondern eine
gefühlte Überzeugung war. Warum war es wiedergekommen? Geister, Teufel, Doppelgänger.
Ich erinnerte mich, wie ich Boris von der unsichtbaren, aber sich verdichtenden
Präsenz erzählt hatte und wie seine Augen interessiert aufleuchteten. Das war damals,
als er mich noch gern hatte, bevor seine Augen stumpf wurden, bevor Stefan starb,
der kleine Bruder, der gesprungen war und zerschmettert wurde, so klug, o Gott,
der junge Philosoph, mit dem es in Princeton niemand aufnehmen konnte, der sie erzittern
ließ, der gern mit mir sprach, nicht nur mit Boris, meine Gedichte las, meine Hand
hielt, der tot war, ehe er mich im Krankenhaus besuchen konnte, wo auch er gelandet
war bei seinen Flügen in den Himmel und Abstürzen in die Hölle. Ich hasse dich für
das, was du getan hast, Stefan. Du wusstest, dass er dich finden würde. Du musst
es gewusst haben. Und du musst gewusst haben, dass er mich anrufen und ich zu ihm
kommen würde. Einen Moment lang sah ich die Urinlache auf dem Boden, vermischt mit
den wässrigen Exkrementen, die die Holzdielen besudelten. Nein.
    Hör auf, daran
zu denken. Denk nicht daran. Kehre in die Gegenwart zurück.
    Boris hatte
mir von Präsenzen erzählt. Karl Jaspers, Wundermensch, hatte das Phänomen «leibhaftige
Bewusstheit» genannt, und jemand anders, wahrscheinlich ein Franzose, hallucination du compagnon. War ich als Mädchen auch verrückt gewesen?
Ein Jahr lang gaga? Nein, nicht ganz ein Jahr, Monate, die Monate der Grausamkeiten,
als ich das Ding unten an der Treppe warten spürte. «Nicht unbedingt verrückt»,
hatte Boris mit seiner von den Zigarren rauen Stimme gesagt, und dann hatte er gelächelt.
Präsenzen würden sowohl von Patienten in Psychiatrie und Neurologie als auch von
ganz normalen Leuten gespürt, hatte er erklärt. Ja, von Scharen von Unschuldigen
ohne Diagnose, genau wie Sie, liebe Leser, deren Verstand nicht gesprungen, nicht
zerrüttet oder in Stücke geschreddert ist, sondern bloß die eine oder andere Marotte
hat.
    Als ich dann
präsenzfrei auf dem Sofa lag, versuchte ich angestrengt, mich zu erinnern, die weit
zurückliegenden Grausamkeiten in der sechsten Klasse «ruhig und sachlich», wie
es im Fernsehen und in schlechten Büchern heißt, zutage zu fördern. Es hatte eine
oder mehrere Verschwörungen gegeben, ein bombastisches Wort für die Taten kleiner
Mädchen, aber spielt das Alter der Täter oder der Tatort der Intrige wirklich eine
Rolle? Spielplatz oder königlicher Hof? Ist der menschliche Umgang dabei nicht derselbe?
    Wie und wann
hatte es

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