Hustvedt, Siri
Gesichtern anderer, und daher spiegelte eine Zeitlang jeder Spiegel
eine Fremde, eine verachtete Außenseiterin, die es nicht wert war zu leben. Mia,
nicht Mai. Ich ordnete es wieder richtig. Ich schrieb es wieder und wieder in mein
Heft. Ich bin Mia. Im Bücherschrank meiner Mutter fand ich eine Anthologie und darin
John Cläres Gedicht «Ich bin».
Ich bin. Doch
was ich bin, wer will das wissen? Von Freunden ganz verlassen, vergessen vor der
Zeit, Verzehr' ich mich in meinen Kümmernissen, Die nah'n und schwinden in Verlorenheit,
Schatten von Leben, des' Seele ist verraucht, Und doch bin ich, leb' ich - wie eingetaucht
Ins Nichts von lautem Hohngelächter ...
Ich hatte keine
Ahnung, was «Verzehr' ich mich in meinen Kümmernissen» bedeutete. Vielleicht hätte
es geholfen.
Ein bisschen
Ironie, Kind, ein bisschen Distanz, ein bisschen Humor, ein bisschen Gleichmut.
Gleichmut wäre das Heilmittel gewesen, aber ich konnte ihn nicht in mir finden.
Das tatsächliche Heilmittel war dann die Flucht. So einfach. Meine Mutter organisierte
sie. St. John's Academy in St. Paul, ein Internat. Dort lächelte man mir zu, erkannte
mich, freundete sich mit mir an. Dort fand ich Rita, die Mitverschworene mit langen
schwarzen Zöpfen und Leserin von Mad, Fan von Ella,
Piaf und Tom Lehrer. Jede in ihrer Schlafkabine, sangen wir schmachtend und mal
mehr, mal weniger in Harmonie Ritas Lieblingsschlagertexte. «Jeden Sonntag könnt
ihr sehn/Wie meine Süße und ich gehn/Tauben vergiften im Park!» (Die fiktiven Tauben
taten mir eigentlich leid, aber Ritas reizende Kameradschaft überwog bei weitem
die Anflüge von Mitleid.) Ihre blassbraunen Beine. Meine weißen mit ein paar Sommersprossen.
Meine schlechten Gedichte. Ihre guten Cartoons.
Ich erinnere
mich an meine Mutter, wie sie am ersten Tag in der Tür zu unserem Zimmer stand.
Sie war so viel jünger, und ich kann ihre genauen damaligen Gesichtszüge nicht
wachrufen. Ich erinnere mich jedoch an den besorgten, aber hoffnungsvollen Blick
in ihren Augen, bevor sie ging, und dass ich bei unserer Umarmung mein Gesicht an
die Schulter ihres Blazers presste und mir befahl einzuatmen. Ich wollte ihren Geruch
behalten - diesen vermischten Duft von losem Puder, Shalimar und Wolle.
Es ist unmöglich,
den Verlauf einer Geschichte vorherzusagen, während man sie erlebt; sie ist formlos,
eine unfertige Prozession von Worten und Dingen, und ehrlich gesagt: Wir können nie wiederherstellen, was war. Das meiste
verschwindet. Und doch, während ich hier an meinem Schreibtisch sitze und versuche,
ihn zurückzubringen, jenen nicht weit zurückliegenden Sommer, weiß ich, dass Wendungen
stattfanden, die sich auf das Folgende auswirkten. Einige stehen vor wie Höcker
auf einer Reliefkarte, aber damals war ich unfähig, sie wahrzunehmen, weil meine
Sicht der Dinge in der undifferenzierten Flachheit, einen Augenblick nach dem anderen
zu leben, untergegangen war. Zeit ist nicht außerhalb von uns, sondern in uns. Nur
leben wir mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und die Gegenwart ist zu kurz,
um überhaupt erfahren zu werden; sie wird nachher behalten, und dann ist sie entweder
kodifiziert oder fällt der Amnesie anheim. Bewusstheit ist das Ergebnis von Verzögerung.
Irgendwann Anfang Juni, in der zweiten Woche meines Aufenthalts, machte ich eine
kleine Wendung, ohne mir dessen bewusst zu sein, und ich denke, sie fing mit den
heimlichen Vergnügungen an.
Abigail hatte
sich mit mir verabredet, damit ich mir ihr Kunsthandwerk ansah. Ihre Wohnung war
kleiner als die meiner Mutter, und zu Beginn fühlte ich mich überwältigt von den
Borden voller Glasfigürchen, den bestickten Kissen und Wandbehängen (Trautes Heim,
Glück allein) und den zusammengefaltet auf Möbeln liegenden bunten Quilts. Verschiedene
Kunstwerke bedeckten den größten Teil der Wände, und Abigail selbst hatte sich in
ein loses langes Gewand geworfen, in dessen Dekor ich Alligatoren und andere Kreaturen
zu erkennen meinte. Trotz der Überladenheit hatte der Raum diese gepflegte, frisch
abgestaubte, stolze Anmutung, wie ich sie von den Schwänen von Rolling Meadows schon
erwartete. Weil Abigail nicht mehr gerade stehen konnte, benutzte sie einen Rollator,
mit dem sie sich in ihrer gekrümmten Haltung geschickt hin und her bewegte. Sie
öffnete die Tür, neigte den Kopf schräg zur Seite, um mich zu beäugen, und während
sie mit der freien Hand an ihrer Hörhilfe herumfingerte, schaute sie konzentriert
in meine Richtung.
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