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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Bild auf meinem Schoß war wieder eine Gobelinstickerei, aber diese wurde von
einem riesigen grau-blauen Staubsauger mit dem dazugehörigen Electrolux-Etikett
auf der Seite beherrscht. Das Ding war nicht am Boden, sondern in der Luft, eine
Flugmaschine, gelenkt von einer unverhältnismäßig kleinen, nur mit High Heels bekleideten
Frau, die im blauen Himmel nebenhersegelte und den langen Schlauch der Maschine
dirigierte. Das Haushaltsgerät war damit beschäftigt, eine Miniaturstadt aufzusaugen.
Ich betrachtete eingehend die beiden Beine eines winzigen Mannes, die aus dem Unterteil
ragten, und die Haare eines anderen, der mit schreckgeweitetem Mund vom Luftstrom
nach oben gezerrt wurde. Kühe, Schweine, Hühner, eine Kirche und eine Schule waren
entwurzelt und würden gleich allesamt von dem hungrigen Schlauch verschluckt werden.
Abigail hatte hart gearbeitet an der Saugkatastrophe, jede Figur und jedes Gebäude
war in winzigen, präzisen Stichen wiedergegeben. Dann sah ich das Miniaturschild,
auf dem Bonden stand, direkt
vor dem Maul des Saugers schweben. Ich dachte an die stundenlange Arbeit und an
das Vergnügen, das sie angetrieben hatte, ein heimliches Vergnügen, eines, das mit
Wut oder Rache zu tun hatte oder zumindest mit der Schadenfreude über eine Ersatzzerstörung.
Viele Tage, vielleicht Monate waren in die Erschaffung dieser «Unterwäsche» eingegangen.
    Ein leiser
Ton kam aus meiner Kehle, aber ich glaube nicht, dass sie ihn hörte. Ich sah sie
an, nickte, lächelte anerkennend und hütete mich zu schreien, als ich sagte: «Es
ist großartig.»
    Abigail ging
langsam zurück zum Sofa. Ich wartete die Schritte und das Ritual des Niederlassens
ab, das mit einem beidseitigen Festhalten am Rollator begann und mit einem schwingenden
Fallenlassen in die Sofapolster endete. «Hab ich siebenundfünfzig gemacht», sagte
sie.
    «Wäre mir heute
zu viel. Die Finger machen nicht mehr mit, die Stiche sind zu fein.» «Mussten Sie
es verstecken?»
    Sie nickte,
dann lächelte sie. «Ich war damals fuchsteufelswild. Das hat mir geholfen.»
    Abigail ging
nicht ins Detail, und ich fühlte mich zu sehr als Außenstehende, um sie auszufragen.
Eine Weile saßen wir zusammen, ohne zu reden. Ich beobachtete, wie der alte Schwan
fein säuberlich sein Plätzchen aß und mit einer bestickten Serviette sorgsam ein
paar Krümel im Mundwinkel abwischte. Nach einigen Minuten kündigte ich an, ich müsse
gehen, und als sie nach ihrem Rollator griff, sagte ich, sie brauche mich nicht
zur Tür zu bringen. Und dann, in einem Anfall von Bewunderung, beugte ich mich vor,
fand ihre Wange und küsste sie herzlich.
    Was wissen
wir wirklich über andere?, dachte ich. Was zum Teufel wissen wir über irgendwen?
     
    Nach nur einer
Woche Kurs traten meine sieben Mädchen hinter ihren jugendlichen Garderoben und
Marotten hervor, und ich merkte, dass sie mich interessierten. Ashley und Alice,
die beiden Einser-Mädels, waren befreundet. Beide waren gescheit, hatten Bücher
gelesen, sogar einige Dichter, und wetteiferten im Unterricht um meine Aufmerksamkeit.
Ashley jedoch war auf eine Art selbstsicher, die Alice nicht hatte. Sie war nach
innen gekehrt. Ein paarmal bohrte sie geistesabwesend in der Nase, während sie an
einem Gedicht arbeitete. Sie neigte zu gestelzten romantischen Bildern - Moore,
wilde Tränen und unbändige Brüste -, die auf ihre intensive Beschäftigung mit den
Schwestern Brome hinwiesen, aber oft bloß albern klangen, wenn sie ihr Werk mit
einem Tremolo in der Stimme vortrug, sodass ihre Mitschülerinnen sich vor Verlegenheit
wanden. Aber trotz ihrer Hochgestochenheit schrieb sie grammatisch korrekt und
viel raffinierter als alle anderen und kam auf einige Zeilen, die mir wirklich gefielen: Schweigen ist ein guter Nachbar und Ich sah mein missmutiges Ich fortgehen. Ashley dagegen
hatte ein starkes Gespür für das, was die anderen wohl cool fanden. Sie mochte Reime,
war von Rapmusik beeinflusst und beeindruckte ihre Freundinnen mit ihrer Wendigkeit,
wenn sie zum Beispiel Unheil mit E-Mail und sprechen mit Verbrechen kombinierte. Das Mädchen hatte genau den richtigen Umgangston
für Workshops und teilte Lob, Trost und feinfühlige Kritik in wohltuenden Dosen
an ihresgleichen aus. Emmas Schüchternheit ließ etwas nach, sie schob ihr Haar zur
Seite und offenbarte Humor: «Tu nie einen Regenbogen in ein Gedicht. Reime niemals treu auf scheu, aber Schal und Qual sind neu.» Nach ein paar Stunden war Peyton so entspannt, dass
sie

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