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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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erinnere
mich genau, aber jetzt ist es so, als wäre ich jemand anders, als schaute ich von
weitem auf mich. Das alles ließ nach, als Bea kam. Aber ich hatte Boris erschreckt,
und weil er mich in der Station «aufgeregt» hatte, sollte er mich nicht wieder besuchen.
Jetzt starrte ich seine Nachricht lange an, ehe ich zurückschrieb: «Ich bin nicht
mehr verrückt. Ich bin verletzt.» Die Worte schienen wahr, aber als ich ausführlicher
werden wollte, schien jeder weitere Kommentar bloß ausschmückend. Was gab es zu kommunizieren? Und die Ironie,
dass Boris kommunizieren wollte, war fast nicht auszuhalten.
    Ich will nicht darüber sprechen. Ich wache gerade auf. Lass mich erst meinen
Tee trinken. Wir reden später. Ich kann nicht darüber sprechen. Wir haben das tausendmal
durchgekaut. Wie oft hatte er diese Sätze von sich gegeben? Wiederholung.
Wiederholung, nicht Gleichheit. Nichts wird exakt wiederholt, nicht einmal Wörter,
weil sich im Sprechen und im Zuhören etwas verändert hat, weil bei einmal und dann
wieder und wieder Gesagtem die Wiederholung selbst die Wörter verändert. Ich gehe
auf demselben Boden auf und ab. Ich singe dasselbe Lied. Ich bin mit demselben Mann
verheiratet. Nein, eigentlich nicht. Wie viele Male hatte er mitten in der Nacht
Stefans Anrufe entgegengenommen. Jahr um Jahr voller Anrufe und Rettungen und Ärzte
und der Abhandlung, die die Philosophie für immer verändern sollte. Und dann das
Schweigen. Zehn Jahre kein Stefan. Er war siebenundvierzig, als er starb. Boris
war fünf Jahre älter, und einmal, nur ein einziges Mal, hatte der ältere Bruder
mir nach zwei Scotch zugeflüstert, das Schrecklichste sei, dass es auch eine Erleichterung
war, dass der Selbstmord seines geliebten Bruders auch eine Erleichterung gewesen
war. Und dann, als seine Mutter starb - die extravagante, komplizierte, wehleidige
Dora —, war Boris der einzige Überlebende. Sein Vater war mit Herzversagen tot umgefallen,
als die Jungen noch klein waren. Boris trauerte nicht irgendwie auffällig. Stattdessen
wich er zurück. Was hatte mein Vater gesagt? «Ich kann nicht. Ich kann nicht.» Ich
hatte mich danach gesehnt, beide Männer zu finden, nicht wahr? Meinen Vater und
meinen Mann, die beide zu langen Abhandlungen über Delikte beziehungsweise Gene
neigten und sich über ihr eigenes Leiden ausschwiegen. «Ihr Vater und Ihr Mann
hatten einige gemeinsame Züge», hatte Dr. S. gesagt. In der Vergangenheitsform:
hatten. Ich sah mir die Nachricht an. Ich bin verletzt. Boris war auch verletzt worden. Ich fügte hinzu: «Ich liebe dich. Mia»
     
    Das Sex-Tagebuch
verschaffte mir nicht die erhoffte Befreiung. Der Bericht über meine frühen masturbatorischen
Ausflüge auf einen Berg, der sich ziemlich plötzlich als etwas zu Erkletterndes dargeboten hatte; die Zungentauchgänge
mit M.B., von denen mein Mund noch am nächsten Morgen weh tat, weil weder ich noch
der besagte Jüngling sich in tiefer gelegene Gefilde getraut hatte; die späteren
wagemutigen Annäherungen von J.Q. unter BHs und in Jeans, während er weiterdrängte,
trotz des kolonialen Widerstandes, dessen Kraft zugegebenermaßen mit der Zeit nachließ,
hatten etwas Abgedroschenes bekommen, was ich nur schwer übersehen konnte. Wen
kümmert's?, dachte ich. Und doch, warum blickte die reife Frau mit solcher Kühle,
mit so einem Mangel an Sympathie auf das Mädchen zurück? Warum produzierte die Älterwerdende
nur Ausflüge in die Ironie? Hatte ich nicht geseufzt und gestöhnt und geweint?
Hatte ich meine Jungfräulichkeit nicht in einem hitzigen, aber zutiefst verwirrten
Zustand verloren, trotz meiner Abenteuer mit M.B. und J.Q. noch immer in Unkenntnis
darüber, wie genau alles funktionierte? Ich erinnere mich an die Holztreppe zum
ersten Stock, an die zerwühlten Laken und Decken, aber an keine Farbe, keine Einzelheiten.
Nur daran, dass gedämpftes Licht durch das Fenster schien und die Aste des Baumes
davor sich bewegten und das Licht mit ihnen. Ein bisschen Schmerz, aber kein Blut
und kein Orgasmus.
    Die zweite
Nachricht lautete bloß: Anstaltsreif. Mr. Niemand
     
    Obwohl sie
mich verunsicherte, beschloss ich, mir keine Gedanken zu machen. Diese Schriebe
hatten etwas Kindisches an sich, und welchen Schaden konnten sie schon anrichten?
Ohne Antwort würde der Absender müde werden und wieder in den Nebeln verschwinden,
aus denen er gekommen war. Er war nicht bedrohlicher als die Präsenz hinter der
Tür - nichts als eine gefühlte Abwesenheit.
    Ab und

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