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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Leichenbittermiene,
als er mit seiner Entscheidung herausrückt; und Daisy, tränenüberströmt, ihr stoßweises
Atmen und Schniefen; sie schluchzt, weil ihr Vater ihre Mutter verlässt, und ich
denke an die Leidenschaft meines eigenen unergründlichen Vaters für eine andere
—, kam das Wort verrückt wieder, und ich schob es weg, und dann tauchte einen Moment
lang das von Ashley großgeschriebene Wort, engel , auf dem Bildschirm
hinter meinen geschlossenen Lidern auf. Ich dachte an Blakes himmlische Besucher,
an die Legende von Rilkes übernatürlicher Begabung, die ersten Worte der Duineser Elegien und dann an Leonard, meinen Mitpatienten
in der Psychiatrie. Er hatte sich zum Propheten des Nichts ausgerufen. Er dozierte
und hielt Reden und liebte offensichtlich den Stentorklang seiner eigenen Bassstimme,
mit der er jedem, der ihm nahe kam, Erklärungen abgab.
    Aber niemand
hörte ihm zu, weder seine Mitpatienten noch das Personal. Sogar sein Psychiater
hatte ihn ausdruckslos angesehen, als er bei einer Zusammenkunft, die ich durch
eines der großen Glasfenster sehen konnte, Leonard gegenübersaß. Er interessierte
mich jedoch, und seine grandiosen Appelle hatten etwas wirklich Brillantes. Am Morgen
meiner Entlassung hatte ich mit ihm im Aufenthaltsraum gesessen. Mit seinem kahl
werdenden Kopf, umringt von ergrauenden Locken, die ihm fast bis auf die Schultern
fielen, sah Leonard zu seiner Rolle passend aus. Er wandte sich mir zu und begann
mit seinen Prophezeiungen. Er sprach über Meister Eckart als einen Botschafter
des Nichts, der Sendling, Hegel und Heidegger beeinflusst hatte. Und er sagte mir,
dass Kierkegaards Angst eine Begegnung mit dem Nichts gewesen sei, dass wir in einer
Zeit des aktualisierten Nichts lebten und dass dies essenziell und mystisch sei.
«Es würde nicht schaden», sagte er und schüttelte den Zeigefinger, «uns der Wahrheit
zu öffnen, dass das Nichts der Urgrund dieser Welt ist.» Leonard mochte verrückt
gewesen sein, aber seine Gedanken waren nicht annähernd so wirr, wie die Herrschaften
im Krankenhaus annahmen. Er setzte seinen Vortrag mit der Erklärung fort, dies alles
habe Bezüge zu den tieferen Ebenen des Buddhismus, und als ich auf Daisy zuging,
die zur Tür hereingekommen war, um mich abzuholen, war er zu Goethes Faust und dessen Abstieg ins Reich der Mütter und seiner Vereinigung
mit dem Nichts gedriftet, und das war das Letzte, was ich von ihm hörte.
    Einsamer Mann.
Er konnte nicht Mr. Niemand sein, oder? Nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte,
tat es mir leid, ihm nicht klargemacht zu haben, dass ich zumindest einigen seiner
Sprünge folgte, doch alles, woran ich damals denken konnte, war das Gesicht meiner
Tochter. Dieses Etwas war alles, worauf es ankam.
     
    Mich meiner
als sie zu erinnern, Schaukelnd in Zimmern Von Eierschalenweiß. Ein Untergrund aus
Schnur –
    Diese heftigen
Zeilen Dessen, was einmal das Herz hieß, verloren an Meinen nun bitteren Mund. «Ein
Gewirr», sagte er.
     
    Nein, Knoten.
Nicht dieser oder diese. Sie war eindeutig, Glaube ich. Ausrangiert. Tu sie weg.
Unbelebtes Ding. Tu sie weg.
    Und lass sie
schaukeln.
    Liebe Mia»,
schrieb Boris. «Was auch zwischen uns geschehen mag, es ist sehr wichtig für mich
zu wissen, wie es Dir geht. Auch um Daisys willen müssen wir miteinander kommunizieren.
Bitte antworte, wenn Du diese Nachricht bekommst.» So vernünftig, dachte ich, so
steife Prosa: miteinander kommunizieren. Ich hatte Lust,
auf etwas zu beißen. Offensichtlich machte er sich Sorgen. Er hatte mich an dem
Tag gesehen, als ich im Krankenhaus landete, als ich akut war, wahnhaft und halluzinierend, bouffee delirante, und davon überzeugt, er würde die Wohnung
stehlen, mich auf die Straße setzen, eine Verschwörung, die er mit der Pause und
den anderen Wissenschaftlern im Labor ausgeheckt hatte, und als er mir zusammen
mit Dr. P. gegenübersaß, sagte eine Stimme: «Natürlich hasst er dich. Alle hassen
dich. Man kann mit dir nicht zusammenleben.» Und dann: «Du wirst enden wie Stefan.»
Ich schrie: «Nein!», und ein Krankenwärter zog mich weg, und sie gaben mir noch
eine Haldol-Spritze, und ich wusste, auch sie hatten ihre Hand im Spiel.
    Sein Bruder und seine Frau. Armer Boris, hörte ich
sie sagen. Armer Boris, er hat lauter Verrückte um sich. Ich erinnere mich, dass
ich mit Felicia faselte, die zum Putzen gekommen war. Ich erinnere mich, dass ich
den Duschvorhang herunterriss und ihr schreiend das Komplott erklärte. Ich
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