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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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den
Krieg mit. Von Albträumen, Tobsuchtsanfällen und wüsten Sauftouren bis zur Bewusstlosigkeit
gequält, hatte der Heimkehrer wenig Ähnlichkeit mit dem Jungen, den «zu lieben,
zu ehren und dem zu gehorchen» sie gelobt hatte, aber andererseits «hatte ich ja
schon vorher nicht den Hauch einer Ahnung, wer er war», wie sie sich ausdrückte.
Eines Tages wurde ihr Mann zu ihrer grenzenlosen Erleichterung fahnenflüchtig.
Ein Jahr später erhielt sie einen zerknirschten Brief von dem Exsoldaten, in dem
er sie bat, zu ihm nach Milwaukee zu kommen. Weil sie schon bei dem bloßen Gedanken
daran «so kalt wie ein Eiswürfei» wurde, lehnte Abigail ab, verlangte die Scheidung,
und die Kunstlehrerin an der Grundschule war geboren.
    Ihre Mutter
hatte ihr das Sticken beigebracht, aber erst nach ihrem Ehedebakel war sie in die
Nähgruppe gegangen, hatte erkannt, dass «sie es tun musste», und ihr Doppelleben
begann. Im Lauf der Jahre hatte sie viele Werke geschaffen, konventionelle wie subversive
oder, wie sie sich ausdrückte, die «Echten» und die «Fakes». Die Fakes verkaufte
sie. Eins nach dem anderen hatte sie mir die Echten gezeigt, und die Seltsamkeit
ihres Projekts war immer offenkundiger geworden. Nicht alle Werke waren boshaft
oder sexueller Natur. Eine Stickerei zeigte zarte Moskitos verschiedener Größe,
reichlich mit Blutspuren versehen; eine andere ein fröhliches Bild einer Figur direkt
aus Gray's Anatomy mit offen liegenden
Organen, aber tanzend; wieder eine andere eine gargantueske Frau, die ein Stück
aus dem Mond herausbiss. Es gab eine große, eigenartig ergreifende Tischdecke, auf
der Frauenunterwäsche dargestellt war: ein Korsett, eine knöchellange Damenunterhose,
ein Unterkleid, Strümpfe, eine Strumpfhose, ein dicker Büstenhalter alten Stils,
ein Hüfthalter mit Strumpfbandgürtel und ein Babydoll; und dann war da ein mit winziger
Kreuzstichschraffur auf ein Kissen genähtes, bemerkenswertes Selbstporträt, weinend
in einem Sessel, das sie Jahre zuvor angefertigt hatte. Die Tränen waren aus Pailletten.
    Als meine Freundin
die Tür öffnete, wirkte sie winzig.
    Der Tremor
hatte auf ihren Kopf übergegriffen, und ihr Kinn wabbelte, als sie vor mir stand.
Sie war schön in eine schwarze Bluse mit roten Rosen und eine enge schwarze Hose
gekleidet. Ihr kurzes, schütteres Haar war hinter die Ohren gekämmt, und ihre Augen
blickten so scharf und konzentriert durch die schmalen Brillengläser wie nie zuvor.
    An diesem Nachmittag
trafen Abigail und ich eine Vereinbarung. Sie legte sich auf ihr Sofa und sprach
mit mir über ihren Tod. Sie hatte niemanden außer einer Nichte, einer lieben Frau,
die die Vergnügungen aber nie verstehen würde. «Sie bekommt mein Geld, was davon
übrig ist.» Dann zitierte Abigail eine Zeile aus meinem ersten Gedichtband: Wir waren verrückt nach Wundern und Schiffen voller Spitze. «Das sind wir,
Mia», sagte sie. «Wir sind wie zwei Eier in einem Nest.» Das schmeichelte mir, obwohl
es mich zwang, mir uns beide, oval und weiß, im Nest liegend vorzustellen. Dann
wechselte sie plötzlich die Metaphernebene vom Organischen zum Mechanischen: «Ich
bin ein Wecker, Mia, kurz davor loszugehen, und wenn es so weit ist, gibt es kein
Zurück. Ich höre mich ticken.» Sie habe alles in ihrem Testament rechtsverbindlich
gemacht, sagte sie. Ich solle die heimlichen Vergnügungen bekommen und damit machen,
was ich wolle. Die Papiere lägen in der obersten Schublade ihres kleinen Schreibtisches.
Das solle ich wissen. Der Schlüssel befinde sich in dem kleinen Porzellanei aus
Limoges, und jetzt solle ich ihn herausholen und die Schublade aufschließen; darin
sei etwas, was sie mir zeigen wolle, ein Foto in einem braunen Couvert, direkt obenauf.
    Zwei junge
Frauen im Smoking, die Arme über die Schultern der jeweils anderen gelegt, stehen
grinsend da, eine, die, wie ich erriet, Abigail sein musste, brünett, die andere
blond. Die Blonde hält eine Zigarette in der rechten Hand. Sie sehen lebenslustig,
kess, sorglos und beneidenswert aus.
    Abigail hob
den Kopf. Dann nickte sie. Sie nickte eine Weile, bevor sie sprach: «Sie hieß genauso
wie deine Mutter. Laura. Ich habe sie geliebt. Wir waren in New York. Das war neunzehnhundertachtunddreißig.»
Sie lächelte. «Fällt schwer zu glauben, dass ich dieser Frechdachs bin, nicht?»
    «Nein», sagte
ich, «es fällt gar nicht schwer.»
    Als ich sie
zum Abschied umarmte, spürte ich ihre Knochen unter der mit Rosen bedeckten Bluse,
und sie

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