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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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reagiert.
Wir würden uns in der kommenden Woche jeden Tag treffen, um die ausgefallenen Stunden
aufzuholen. Heute sollte jedes Mädchen seinen Text vorlesen, und wir würden uns
darüber unterhalten, aber an den kommenden vier Tagen würden wir die Plätze tauschen
und die Geschichte aus der Perspektive einer anderen erzählen. Jessie zum Beispiel
würde Emma werden, Joan Alice, Peyton Ashley, ich Nikki und so weiter. Aufgerissene
Augen, über den Tisch gewechselte besorgte Blicke. Am Ende der Woche würden wir
eine von der ganzen Klasse verfasste Geschichte haben. Der Trick bestand darin,
dass wir uns mehr oder weniger über den Inhalt einigen mussten.
    Ehrlich gesagt,
hatte ich keine Ahnung, ob das funktionieren würde. Es war nicht ungefährlich.
Denken Sie nur an das nunmehr berühmte psychologische Experiment von 1971 an der
Stanford University. Eine Gruppe junger Männer, lauter Studenten, übernahm darin
die Rolle von Gefangenen oder von Wärtern. Binnen Stunden fingen die Wärter an,
ihre Gefangenen zu foltern, und das Experiment wurde abgebrochen. Das Wirklichkeit
gewordene Theater der Grausamkeit? Die Performance selbst wird Person? Wie formbar
waren die sieben?
    Ich begann
mit einer kurzen Zusammenfassung meines eigenen Erlebens: meine Verdachtsmomente
während des Unterrichts, meine Verwirrung über das Kleenex und meine dunkle Ahnung,
dass da irgendein Komplott ausgeheckt wurde. Ich erwähnte auch meine Verwicklung
in eine ähnliche Geschichte als Mädchen. Ich sagte nicht, welche Rolle ich dabei
gespielt hatte. Ihr Freunde da draußen werdet weitgehend von der Langeweile früher
adoleszenter Prosa verschont; sie ist noch schlechter als ihre Lyrik. (Kein einziges
Kind entschied sich, den Hexenskandal in Versen zu beschreiben.) Es reicht wohl
die Mitteilung, dass die unbeholfenen und grammatisch oft falschen Erzählungen nicht
stimmig waren. Nach jedem Vorlesen erscholl laut der Kehrreim: «Das habe ich nie
gesagt!» - «Das war deine Idee, nicht meine!» - «So war es überhaupt nicht!» Einige
Streitpunkte bezogen sich auf Unwesentliches, auf das Wann und Wo und Wer. «Du hast
die tote Grille in die Mischung getan, nicht ich!» - «Frag meine Mom. Sie hat dich
mit Blut am Arm aus dem Bad kommen sehen, weißt du nicht mehr?» Dennoch gab es wiederkehrende
Rechtfertigungen für das Komplott: Am Anfang hatten sie Alice alle gemocht, aber
dann, mit der Zeit, hatte sie sich auf eine Weise hervorgetan, die ihnen nicht gefiel.
Sie war im Geschichtsunterricht Mr. Abbots «Liebling» gewesen und hatte sich andauernd
gemeldet. Sie kaufte ihre Kleider in Minneapolis in einem Kaußoaus und nicht im Einkaufszentrum von Bonden. Sie las die
ganze Zeit, was «langweilig» war. Ashleys Zusammenfassung enthielt die Tatsache,
dass Alice in der Theateraufführung der Schule eine Hauptrolle bekommen hatte und
sich nach diesem «glücklichen Zufall» in einen «großen Snob» verwandelt habe. Was
bei den verschwörerischen Hexen als «kleiner Spaß» begonnen hatte, um es «Alice
heimzuzahlen», war irgendwie, unerklärlicherweise ganz von selbst, aus dem Ruder
gelaufen. In dieser Version der Geschichte gab es keine Handelnden, bloß Gefühlsströme,
Zauberkräften gleich, die die Mädchen hierhin und dorthin gezerrt hatten. Bea und
ich benutzten als Halbwüchsige immer eine Redensart, die derartige Handlungen gut
beschrieb: «aus Versehen mit Absicht». Als ich das erwähnte, lächelten alle ringsum
belämmert, außer Alice natürlich, die schwer daran arbeitete, die Oberfläche des
Tisches zu mustern.
    Sie las als
Letzte. Trotz der Hässlichkeit der Geschichte, die das Mädchen erzählen musste,
hatte es sich selbst zu deren Heldin gemacht, in der Art von Jane Eyre oder David
Copperfield, jenen Waisen, denen Unrecht angetan wurde und die ich in ihrem Alter
so geliebt hatte, und sie hatte hart daran gearbeitet. Mit Adjektiven überfrachtet,
stark übertrieben und nicht frei von sprachlichen Fehlern (Geißel statt Geisel),
drückte der Text doch sowohl ihr starkes Bedürfnis aus, zur Gruppe zu gehören, als
auch die Qual, eine Ausgestoßene zu sein. Beim Zuhören ahnte ich, dass es, obwohl
ihre Akteurin sie nicht bei allen Mitgliedern des Hexenzirkels beliebt machen würde,
für Alice eine Wohltat gewesen war, sie zu gestalten. Das Opferlamm kam in ihrer
Version der Ereignisse gut heraus, schon weil sie ihr Alter Ego wie im Schauerroman
üblich dargestellt hatte, praktischerweise unterstützt von dem unvergesslichen

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