Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
Vom Netzwerk:
Hierarchie, der zufolge «breit» besser als «schmal» ist
und «männlich» wünschenswerter als «weiblich». Es gibt in der Kunst kein Gefühl,
das nicht ausgedrückt, und keine Geschichte, die nicht erzählt werden darf, es
sei denn, man hat ein Brett vorm Kopf. Die Verzauberung entsteht durch das Fühlen
und das Erzählen, das ist alles.
    Von Daisy kam
dies:
     
    Hi, Mom. Das
Essen mit Dad war okay. Es scheint ihm etwas besser zu gehen. Wenigstens war er
rasiert. Ich glaube, er schämt sich wirklich. Er sagte, er hoffe, dass Du dieses
«Intermezzo» als das sehen kannst, was es war. Er erwähnte auch «vorübergehende
Unzurechnungsfähigkeit». Ich sagte, das sei das gewesen, was Du hattest, und er
sagte, er hätte es vielleicht auch gehabt. Mom, ich glaube, er meint es ernst. Weißt
Du, es war schrecklich für mich, Euch beide gegeneinander zu erleben. Liebste Küsse,
Daisy
     
    Trotzdem, ich
konnte mich nicht auf Daisys Vater stürzen.
    Als ich über
unsere Geschichte nachdachte, wurde mir klar, dass es vielfache Perspektiven gab,
aus denen man sie betrachten konnte. Ehebruch ist sowohl gewöhnlich wie verzeihlich,
genauso wie die Raserei der betrogenen Ehefrau. Wir sind ja keine Übermenschen,
oder? Ich hatte meine eigene französische Farce mit meinem wankelmütigen, unbeständigen
Ehemann in der Hauptrolle durchgestanden. War es nicht Zeit, «zu vergeben und zu
vergessen», um das Standardklischee zu bemühen? Vergeben ist das eine, Vergesslichkeit
das andere. Ich konnte ja keine Amnesie herbeiführen. Was würde es bedeuten, mit
Boris und der Erinnerung an die Pause oder das Intermezzo zu leben? Würde es jetzt
anders zwischen uns sein? Würde sich irgendetwas ändern? Können sich Menschen ändern?
Wollte ich, dass es genauso war wie vorher? Konnte es genauso sein? Den Krankenhausaufenthalt
würde ich nie vergessen, hirnscherben . Ich war so
auf Gedeih und Verderb mit Boris verflochten gewesen, dass sein Abgang mich zerrissen,
mich schreiend in die Anstalt befördert hatte. Und war die Angst, die ich empfunden
hatte, nicht alt gewesen, die Angst vor Zurückweisung, die Angst, Missfallen zu
erregen, nicht liebenswert zu sein, eine Angst, vielleicht älter als meine klare
Erinnerung? Monatelang war ich in Wut und Kummer ertrunken, aber im Verlauf des
Sommers hatte sich mein Geist allmählich, unbewusst und schrittweise verändert.
Dr. S. hatte es erkannt. (Apropos, wie sehr ich sie vermisste!) Beim Lesen von
Daisys Brief fühlte ich diese unterschwelligen, noch nicht ausformulierten Gedanken
aufsteigen, Sätze bilden und sich irgendwo zwischen meinen Schläfen sicher festsetzen: Ein Teil von mir war dabei, sich an die Vorstellung
zu gewöhnen, dass Boris für immer weg war. Niemand hätte
von dieser Offenbarung schockierter sein können als ich.
    Und nun muss
sich der Vorhang über dem folgenden Montag heben, als sieben peinlich berührte Mädchen
und eine Dichterin, die sich anstrengte, ihre eigenen Ängste zu verbergen, um einen
Tisch im Kunstverein saßen. Eine Lähmung schien alle sieben jungen Körper ergriffen
zu haben, als wäre ein unsichtbares, aber hochwirksames Gas in den Raum eingelassen
worden und schläferte sie alle schnell ein. Peyton hatte die Arme auf dem Tisch
verschränkt und den Kopf daraufgelegt. Joan und Nikki, wie immer nebeneinandersitzend,
schwiegen eisern, die mit Eyeliner umrandeten Lider niedergeschlagen. Jessie stützte
mit leerer Miene das Kinn auf die Hände. Emma, Ashley und Alice wirkten schlaff
vor Erschöpfung.
    Ich sah jede
von ihnen einen Moment lang an und begann in einer plötzlichen Eingebung zu singen.
Ich sang Brahms' Wiegenlied auf Deutsch: «Guten Abend, gute
Nacht, mit Rosen bedacht.» Ich habe keine liebliche Stimme, aber
ein gutes Gehör, und ich tremolierte so, dass es angemessen absurd klang. Der Ausdruck
von Überraschung und Verwirrung auf ihren Gesichtern brachte mich zum Lachen. Sie
fielen nicht in mein Lachen ein, doch zumindest waren sie aus ihrer Lethargie aufgerüttelt
worden. Es war Zeit für meine Rede, und ich hielt sie. Im Kern ging es darum, dass
eine einzelne Geschichte mit sieben Personen je nach Identität des Erzählers auch
sieben Geschichten sein kann. Jede Person betrachtet dieselben Ereignisse auf
ihre eigene Art und wird etwas andere Motive für ihr Handeln haben. Unsere Aufgabe
war es, eine wahre Geschichte sinnstiftend zu erzählen. Ich hatte ihr den Titel
«Der Hexenzirkel» gegeben. Darauf wurde mit einer Runde wortlosen Gemurmels

Weitere Kostenlose Bücher