Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
Vom Netzwerk:
Gewitter,
das die Himmel zerrissen hatte, als ich in jener Juninacht im Bett lag. Anscheinend
hatten die Mädchen, als sie bei Jessie zu Hause «herumhingen», gemeinsam beschlossen,
Alice nicht anzusehen und ihr nicht zu antworten, wenn sie etwas sagte, so zu tun,
als wäre sie unsichtbar und unhörbar. Nachdem sie eine halbe Stunde so behandelt
worden war, hatte unsere Heldin die Flucht in den «herniederprasselnden Regen angetreten,
wobei Tränen über ihre Wangen strömten und ihr Haar vom Sturm gepeitscht wurde»,
während «Blitze den Himmel durchzuckten». Als dieses tragische Geschöpf zu Hause
ankam, war es «bis auf die Haut durchnässt und bis auf die Knochen durchgefroren»
und «ihre Zähne klapperten wie verrückt». Obwohl Alice die Hexenzirkel-Version der
Meidung wohl nicht gefallen hatte, schien es ihr sichtlich Spaß gemacht zu haben,
darüber zu schreiben. Alice, die literarische Figur, hatte eine rettende Funktion
für die ganz einfache Alice, die in die siebte Klasse ging. Ihre Erzählung endete
mit den Worten: «Nie zuvor habe ich so eine tiefe, unerträgliche Verzweiflung verspürt.»
    Ich lächelte
nicht. Ich erinnerte mich.
    Die arme Peyton,
deren Reue schon voll erblüht war, weinte und putzte sich die Nase.
    Jessie sah
Alice nicht an, entschuldigte sich aber beschämt flüsternd.
    Nikki und Joan
wanden sich unbehaglich.
    Ashley und
Emma blieben unversöhnlich.
    Ich schickte
sie mit ihren Aufgaben nach Hause. Ich tat Ashley und Alice zusammen, paarte Peyton
und Joan, Nikki und Emma, und weil sieben ungerade ist, übernahm ich selbst Jessie,
die ihrerseits die Aufgabe bekam, als die weitgehend unwissende Lyriklehrerin zu
schreiben.
    Boris warb.
     
    Mia,
    ich war einfach
ein schmerzerfüllter blöder Kerl. Boris
     
    (Quelle: T.
R. Devlin, gespielt von Cary Grant, zu Alicia Huberman, gespielt von Ingrid Bergman,
gegen Ende von Berüchtigt. Der Held trägt,
sofern ich mich richtig erinnere, seine mit Gift betäubte Liebste die Treppe hinunter,
als er diese Bemerkung macht. Boris und ich hatten den Film mindestens siebenmal
zusammen gesehen, und B. I. hatte bei dieser lapidaren Erklärung für Mr. Devlins
echt miserable Behandlung der göttlichen Miss Huberman jedes Mal Tränen vergossen.
Diese Werbung ließ mich nicht ungerührt. Nein, ich will nicht um den heißen Brei
herumreden: Ich war gerührt. Es würde ganz und gar nicht hinhauen, Cary durch Boris
oder Ingrid durch mich zu ersetzen. Wenn ich mir meinen bebrillten Neurowissenschaftler
mit seinem Bäuchlein vorstelle, wie er ächzend und schnaufend seine kraushaarige
fünfundfünfzigjährige Verseschmiedin eine riesige Hollywood-Freitreppe hinunterträgt,
ist die Illusion hin. Aber darum geht es gar nicht. Wir müssen uns alle von Zeit
zu Zeit das Recht auf Projektionen zugestehen, die Gelegenheit, uns in die imaginären
Roben und Abendanzüge dessen zu werfen, was nie war und nie sein wird. Das poliert
unser mattes Leben etwas auf, und manchmal können wir einen Traum statt eines anderen
wählen und in dieser Wahl etwas Erholung von der gewöhnlichen Traurigkeit finden.
Schließlich kann keiner von uns allen das Knäuel von Fiktionen entwirren, die jenes
wacklige Ding bilden, das wir Selbst nennen.)
    Von Bea, nachdem
sie über die Boris/Mia-Entwicklungen informiert wurde:
     
    Denk dran,
Baby Tick, wir alle bauen Mist. Alles Liebe, B.
    Von Niemand,
endlich:
     
    Nierensteine.
     
    Armer Mr. Niemand,
mein hochfliegender Dialogpartner war von diesen qualvollen Kieseln zu Fall gebracht
worden. Ich wünschte ihm baldige Genesung.
    Ich hatte gelernt,
nach dem Klopfen einige Zeit zu warten, bis Abigail zur Tür kam. Ich hatte sie,
entweder allein oder mit meiner Mutter, ziemlich regelmäßig besucht, und seit ihrem
Sturz hatten wir uns Sorgen um unsere gemeinsame Freundin gemacht. Sie schien täglich
zu schrumpfen; dennoch blieb die Kraft ihrer Persönlichkeit unverändert. Und in
der Tat, was mich zu Abigail hinzog, war ihre Unbeugsamkeit. Das wird gewöhnlich
nicht als wünschenswerter Charakterzug an Menschen gesehen, doch bei ihr schien
er eine Widerstandsfähigkeit gegen die im Mittleren Westen verbreitete Gesinnung
ängstlicher Konformität entwickelt zu haben. Abigail hatte in stiller, aber eiserner
Auflehnung genäht, gestickt und appliziert. Inzwischen kannte ich die Geschichte
vom Gefreiten Gardener. Sie hatte ihn in einer Anwandlung geheiratet, kurz bevor
er in den Pazifik abrückte, doch als er nach dem Krieg heimkehrte, brachte er

Weitere Kostenlose Bücher