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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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Vertriebsmann polierte seine Statistik und rückte die Zahlen in ein immer positiveres Licht, bis schließlich der Eindruck entstand, ganz Deutschland sei mit den Blättern des eigenen Verlages gepflastert.
    Der Honecker-Effekt wurde durch Anschauungsarbeit verstärkt: Wann immer der Herr Verleger verreiste (was verlagsintern von langer Hand geplant wurde), schicke der Vertriebchef eine Vorhut los. Diese flinken Helfer präparierten den jeweiligen örtlichen Kiosk mit Zeitschriften des Verlages so dicht, dass sie ebenso schnell wie der »Stern« oder der »Spiegel« zu finden waren.
    Wo immer der Verleger bei seinen Reisen ankam, sei es am Flughafen in Zürich oder am Bahnhof in Buxtehude: Die Flaggschiffe seines Hauses, die wichtigsten Zeitschriften, segelten ihm an jedem Verkaufsstand entgegen. Kein Zweifel: Seine Zeitschriften waren auf dem Weg, »Spiegel« und »Stern« den Rang abzulaufen …
    Alle im Verlag, sogar die Lagerarbeiter, wussten Bescheid über diese Komödie. Nur der Verleger selbst betrachtete die Aufführung als die Wirklichkeit – so wie sich Honecker für einen guten Jäger hielt.
    In Wahrheit war der Vertrieb übrigens bescheiden. Er erreichte vor allem die Fachgeschäfte, aber viel zu selten über Grossisten die Kioske.
    Mag diese Anekdote zum Schmunzeln sein: Andere sind zum Heulen, weil die Unternehmen sich selbst schädigen. Ein Klient von mir, Fertigungsingenieur eines großen Maschinenbauers, beschrieb mir folgende Situation: Die Lieferung des Prototyps einer Großmaschine, die in Serie gehen sollte, war vom Vorstand zu einem bestimmten Termin zugesagt worden – nicht nur dem Kunden, sondern über die Medien der ganzen Republik.
    Vorher hatte der Vorstand die Manager der Bereiche zu sich getrommelt, den Wunschtermin genannt und streng gefragt: »Schaffen wir das?« Alle nickten eifrig – und schluckten ihre Bedenken hinunter.
    Mein Klient erzählte mir: »Als ich den Liefertermin hörte, war mir sofort klar: ein Hirngespinst! Bei der Produktion einer neuen Maschine läuft immer etwas schief.« Auch diesmal klemmte es: »Mit der Zeit ergaben sich drei Probleme: Erstens kam ein Zulieferer mit seinen Spezialteilen nicht zu Potte. Zweitens passten die Pläne für die Elektrik, die in zwei Ländern entwickelt worden waren, nicht zueinander. Und drittens hatte das Management dem Kunden leichtfertig Sonderwünsche zugestanden, für die keine Zeit einkalkuliert worden war.«
    Der Zug der Produktion, der mit großen Worten ins Rollen gebracht worden war, blieb bereits nach einigen Wochen hinter seinem Zeitplan zurück – und je mehr Stationen er durchlief, desto mehr Verspätung sammelte er an. »Doch unser direkter Chef«, sagte mein Klient weiter, »wollte von den Problemen nichts wissen: ›Wir müssen den Liefertermin halten. Da stehe ich von oben unter Druck. Schauen Sie einfach, dass wir diesen Zeitrückstand wieder wettmachen.‹«
    Dieses Verhalten ist unter Irrenhaus-Direktoren beliebt: Sie wollen nicht hören, wo der Schuh drückt – sie wollen nur hören, dass ihre Konzepte erfolgreich, ihre Termine einzuhalten sind. Alles im grünen Bereich! Unangenehme Wahrheiten, etwa die, dass ihr Jagdrevier nur ein Freilichtzoo ist, verbitten sie sich.
    Ein fataler Kreislauf setzte ein: Der Chef des Entwicklungsingenieurs gab nach oben weiter, dass es zwar »kleinere« Verspätungen gebe, man jedoch den Termin halten werde. Mit jeder Ebene, über die nach oben kommuniziert wurde, schrumpfte das Problem – es wurde »Durchwink-Politik« betrieben, wie das die Konzernmitarbeiter spöttisch nannten.
    Beim Top-Management kam nur noch die Fanfare des Jagderfolges an: »Hurra. Treffer. Plansoll erfüllt!« Und so wurden Liefertermine, von denen jeder Arbeiter in der Werkshalle wusste, dass sie niemals zu halten waren, von den gehobenen Managern bis zuletzt für realistisch gehalten – und gegenüber dem Kunden und der Öffentlichkeit bekräftigt.
    Am Ende, als das Luftschloss einstürzte, übergossen die Medien den Konzern mit Spott. Etliche Kunden sprangen ab. Andere kürzten die Rechnungen. Der Imageschaden war enorm.
    Ein Irrenhaus zeichnet sich dadurch aus, dass die Direktoren zwar mit allen Geschäftszahlen vertraut, mit allen wichtigen Geschäftspartnern per du und bei allen wichtigen Meetings anwesend sind – aber über die wahren Probleme, die im Keller der Hierarchie gären, wissen sie weniger als die Hauspost-Zusteller, die alle Abteilungen durchwandern und denen freimütig

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