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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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per Briefpost und nicht nur per Mail!«. Aha, dache ich, sie arbeitet in einer Verdachtskultur, in einer Firma, in der man keinen Außentermin machen, keinen Cent ausgeben, keine Druckerpatrone wechseln darf, ohne sich vorher durch eine Unterschrift des Vorgesetzten abzusichern.
    Leider lag ich mit meiner Einschätzung richtig. Die Frau war in dieser Firma, einer angesehenen Krankenkasse, schon seit über zehn Jahren tätig. Offenbar litt die Irrenhaus-Direktion unter der Wahnvorstellung, ihr Haus sei für die Mitarbeiter ein einziges Naherholungsgebiet. Immer wieder wurden die direkten Vorgesetzten angewiesen, die Mitarbeiter in kurzer Frequenz »reporten« zu lassen. Ziel dieses Vorgehens war es, die exakte Arbeitsbelastung der einzelnen Mitarbeiter herauszufinden – und zu merken, wer vielleicht überflüssig war.
    Jeder in dieser Firma stand unter dem Druck, seinen eigenen Arbeitsplatz zu rechtfertigen. Meine Klientin war dazu übergegangen, täglich »Arbeitsprotokolle« zu schreiben. Sie klangen wie Schulaufsätze unter dem Motto »Mein Tag in der Firma«: »7.30 Uhr, Rechner hochgefahren, Maileingänge geprüft. Sieben Kundenbeschwerden. Zuerst geantwortet auf …«
    Aber genau diese Art der Absicherung war der Mitarbeiterin von ihrem Vorgesetzten eingeimpft worden, damit dieser wiederum seinem Chef detailliert aufzeigen konnte, dass seine Mitarbeiter rund um die Uhr in Aktion waren.
    Die Absicherungsbürokratie ging noch weiter: Wann immer meine Klientin marktübliche Nachlässe einräumte, druckte sie Mailwechsel aus, tippte Gesprächsprotokolle und legte vergleichbare Angebote von Konkurrenzunternehmen der Unterschriftsmappe bei. Erst wenn dieses Netz unter dem Hochseil gespannt war, erklärte sich ihr Chef bereit, mit seiner Unterschrift das Geschäft freizugeben.
    Das Groteske: Durch den Verfolgungswahn ihrer Firma hatten die Mitarbeiter tatsächlich alle Hände voll zu tun – nur dass sie sich einen großen Teil der Zeit nicht mit den Kunden befassten, sondern mit der Rechtfertigungsbürokratie.
    Am Ende unseres Beratungstermins verblüffte mich die Versicherungskauffrau: Sie griff in ihre Handtasche, fingerte ihr Portemonnaie hervor und wollte meine Dienstleistung in bar bezahlen. Mein Hinweis, ich würde ihr eine Rechnung stellen, hat sie völlig verblüfft: »Aber wie können Sie sicher sein, dass Sie Ihr Geld bekommen?« So viel Vertrauen hatte sie in ihren über zehn Firmenjahren offenbar nie geschenkt bekommen …
    Der Absicherungswahn ihres Irrenhauses hatte sich wie ein Borkenkäfer in sie hineingefressen. Doch offenbar spürte sie, dass diese Verdachtskultur sie auffraß – sie war auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber.
    Ein weiteres Beispiel für übergreifenden Firmenwahn: Letztes Jahr hat mich ein leitender Mitarbeiter eines mittelständischen Unternehmens kontaktiert, um sich beruflich zu verändern. Seine Ausgangsfrage lautete: »Ich möchte klären, welcher deutsche Konzern am besten zu meinen Karrierezielen passt.« Dass die Großunternehmen nur auf ein Mittelstands-Genie wie ihn warteten, setzte er voraus. In der Beratung erfuhr ich: Die 300-Mann-Firma, für die er arbeitete, regierte den regionalen Markt wie ein Königreich und wurde bei jeder Gelegenheit bejubelt. Die Überzeugung, überall begehrt zu sein, war von der Firma auf den Mitarbeiter übergesprungen – dabei war es für ihn mit Ende 40 höchst schwierig, einen Wechsel von einer mittleren in eine große Firma noch zu bewerkstelligen.
    Sogar die »Landessprache« einer Firma färbt auf die Mitarbeiter ab. Zum Beispiel stelle ich bei Behördenmitarbeitern immer wieder fest, dass sie das Wort »Mensch« aus ihrem Wortschatz gestrichen und durch »Bürger« ersetzt haben. Ein Oberamtsrat sagte zu mir: »Ich persönlich als Bürger habe die Erwartung …« Wohlgemerkt: Er sprach über seine beruflichen Vorstellung – nicht über sein Wahlrecht.
    Unter den Mitarbeitern etlicher Technologiekonzerne gehört das Wort »ich« zu den aussterbenden Arten. »Man« – so das Ersatzwort – arbeitet nicht mit Menschen, sondern mit »Projektbeteiligten« zusammen. Und die haben, wie Maschinen, zu »funktionieren«. Solche Klienten sprechen in der Beratung von »familiären Umständen«, wenn sie ihre schwangere Frau meinen, von einem »unterrepräsentierten Privatleben«, wenn sie gerade den letzten Freund vergrault haben, und schlimmstenfalls von einem »Loch in der Personaldecke«, wenn ihre beste Kollegin an Krebs

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