Ich beschütze dich
verkniffenes Gesicht und redet überstürzt.
»Wir haben die Briefe nur an uns genommen. Wir haben sie nicht gelesen. Wir wollten sie gar nicht lesen. Wenn wir diesen Brief gekannt hätten, hätten wir dich doch gar nicht auf das Floß gelassen. Wir hätten verhindert, dass er überhaupt wegläuft!«
Sie wendet das Gesicht ab. Ich warte.
Als sie mich schließlich wieder ansieht, wirkt sie überrascht, als hätte sie nicht erwartet, dass ich noch hier bin.
»Jemand hat die Briefe aber geöffnet. Sieh her. Mit einem Messer. Wer war das?«
»Als du an die Uni gegangen bist, wollte dein Vater sie wegwerfen und einen neuen Anfang machen. Da hat er sie gelesen und erkannt, was für einen schrecklichen Fehler er gemacht hat. Ich glaube, deshalb hat er sich das Leben genommen.«
»Und das hast du mir nie erzählt!«
»Was hätte das bringen sollen? Es war zu spät. Seb war so oder so tot. Wir konnten ihn nicht zurückbringen. Es hätte nicht passieren müssen, aber das zu wissen, hätte es für dich nur noch schlimmer gemacht. So habe ich das gesehen.«
Der Himmel vor den Fenstern des Krankenhauses wirkt bedrohlich. Drinnen scheinen die Leuchtstoffröhren zu grell. Sie sieht mich flehentlich an, wie ein kleines Kind seine Eltern ansieht, wenn es weiß, dass es etwas falsch gemacht hat. Sicher will sie mir jetzt geben, worum ich sie gebeten habe. Ein Eingeständnis. Die Möglichkeit, einen Teil der Schuld abzuladen, bevor sie stirbt. Dann kann ich ihr auch vergeben.
Sie sagt: »Dein Vater hat dir das Flusshaus hinterlassen. Reicht das nicht?«
»Ob das reicht?«
Ich erhoffe mir mehr, ein Anzeichen von Liebe oder Vergebung oder Trost. In mir regt sich leise Mitleid mit ihr, weil ihr das so schwerfällt.
Ich würde gerne etwas sagen, etwas, das uns endlich zusammenbringt. Ich möchte, dass wir die Trauer teilen, die wir so viele Jahre mit uns herumgetragen haben. Aber auch mir fehlen die Worte. Also sage ich nur: »Mutter, rede mit mir.«
Sie sieht mich bloß an durch das eine Auge, das sie öffnen kann, und die Worte, die ich mir ersehne, bleiben aus. Ich stehe auf und gehe einen Schritt auf die Tür zu.
»Sonia.«
Als ich mich umdrehe, streckt sie mir eine gebrechliche, alte Hand entgegen.
Ich gehe zurück. Unsere Finger berühren sich kurz. Ich beuge mich vor und drücke ihr einen Kuss auf das Haar. Und dann gehe ich.
Ich muss jetzt zu Jez gehen und die Tür aufschließen, weil ich ihn nie zwingen wollte zu bleiben. Er dürfte jetzt wieder bei Kräften sein. Aber er wird nicht gehen wollen. Wir werden zusammen zum Fluss hinunterschlendern, bis über die Knöchel ins Wasser waten, ohne unsere Jeans hochzukrempeln. Vielleicht geht er etwas weiter, ganz hinein, schwimmt zu den Lastkähnen und klettert an Bord. Ruft mich zu sich. Blickt auf das Flusshaus und sagt mir wieder, dass er gerne dort wohnen würde. Das Wasser wird den Kahn plötzlich anheben, dass er ins Wanken gerät, und er wird lachen und so tun, als würde er hinfallen.
»Wir bauen ein Floß, Sonia«, wird er rufen. »Und hauen von ihnen ab.«
Und wir werden uns auf den Bauch legen, über das spiegelglatte Wasser paddeln und uns eine versteckte Bucht zwischen den dunklen Werften suchen. Den Abend verbringen wir an einem versteckten Strand, während sich der Fluss im Sonnenuntergang feuerrot färbt. Suchen Tonpfeifen am Strand. Graben im Matsch nach einem Schatz. Folgen Schwänen und den Küken, die sich unter ihre Flügel kuscheln. Sie werden uns nicht finden. Dann gibt es nur uns, die Schwäne und den Fluss, für immer.
K APITEL V IERZIG
Mittwoch
Sonia
Auf dem Heimweg vom Krankenhaus fällt mir im Bus das Paket ein, das heute angekommen ist. Ich werde direkt zu Jez hinaufgehen. Ich kann ihn nicht behalten. Dass sie ihn mir wegnehmen, kann ich nur verhindern, wenn ich alles beende. Ich muss es tun. Ich muss Jez für immer in diesem Zustand festhalten, in dem Seb bei seinem Tod war. Danach können sie mit mir machen, was sie wollen.
Sobald ich zu Hause ankomme, öffne ich das Paket und nehme die Modroc-Binden heraus. Ich gehe mit einer Schüssel ins Musikzimmer. Jez beobachtet mich.
Ich lasse im Badezimmer warmes Wasser in die Schüssel laufen und stelle sie zu seinen Füßen ab, damit ich die Binden nach und nach einweichen kann.
Im Abendlicht haben sich die Fenster orangerot gefärbt. Wie Bonbons. Das passiert manchmal über dem Fluss, die Schadstoffe in der Luft lassen den Sonnenuntergang verschwimmen, und der Himmel sieht aus wie
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