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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Penny Hancock
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Sie nickt, wenn ich den Spiegel hochhalte. Ich schenke ihr ein Glas Wasser ein.
    Den Stapel Schulzeugnisse lege ich auf ihr Krankenhausbett neben die anderen Sachen, die ich geholt habe: ihre saubere Unterwäsche, ein Nachthemd zum Wechseln, die Nachtcreme, die sie am liebsten benutzt. Sie blickt mit einem blauen Auge zu mir auf, ihr Blick ist leer. Bilde ich mir das nur ein, oder hat sie nach meinem letzten Besuch noch weiter abgebaut?
    Vielleicht bleibt ihr nicht mehr viel Zeit. Ich treffe eine Entscheidung.
    »Mutter, schau mal.«
    Ich lasse ihr ein paar Minuten, um sich den Brief anzusehen.
    »Siehst du, von wem er ist?«
    »Das ist … nicht, Sonia«, sagt sie.
    »Was meinst du mit ›nicht‹? Er ist von Seb, Mum. Von deinem Sohn.«
    Sie sagt nichts. Ich frage: »Und an wen ist er adressiert?«
    »Das kann ich nicht sehen. Ich kann den Namen nicht lesen.«
    Sie will ihn nicht lesen.
    »Er ist an mich adressiert. Siehst du. Sonia . Ein Brief von deinem Sohn an deine Tochter.«
    Sie sieht mich an, das gute Auge vor Schreck weit aufgerissen. Als würde ihr das zum ersten Mal klar.
    »Von meinem Bruder an seine Schwester. Ich habe den Brief nie bekommen.«
    Ich stocke und mustere sie, um zu sehen, ob sie überhaupt versteht, was ich sage. Sie versucht, den Kopf abzuwenden. »Ich lese ihn dir vor.«
    5. Februar
    Sonia,
    ich wusste nicht, dass es am 12. eine Springflut gibt. Die Vorhersage klingt scheußlich. Es wäre viel zu gefährlich, mit Tamasa zu kommen. Melde dich bei Mark, und nimm mit ihm die Jolle, nicht das Floß. Ich habe mit ihm geredet, und er findet auch, dass wir kein unnötiges Risiko eingehen sollten. Ich werde hier drüben noch erwachsen!
    Jedenfalls kommen wir noch oft genug dazu, auf Tamasa zu fahren, wenn ich erst aus diesem Laden raus bin. Der ganze Sommer liegt vor uns! Schon der Gedanke daran. Aber bitte komm in dem Boot.
    Seb x
    Meine Mutter nimmt den Brief in die Hand, die ihr noch gehorcht. Minutenlang starrt sie stumm mit ihrem guten Auge Sebs Handschrift an. Schließlich legt sie die Hand auf das Krankenhauslaken und lässt das dünne Papier auf die Decke flattern. Sie hebt den Arm, tätschelt sich das Haar und legt sich die Hand auf die Brust.
    »Wir haben Seb weggeschickt, damit ihr aufhört. Bruder und Schwester, die so unvorstellbare Dinge tun.« Ich schäme mich plötzlich so, dass es mich heiß überläuft. »Aber dann musstet ihr euch ja unbedingt schreiben.«
    »Seb konnte diese Schule nicht ausstehen. Er hat mir geschrieben und mich gebeten, ihn abzuholen. Den Brief, dass ich Tamasa nehmen soll, habe ich bekommen. Ich habe gemacht, was er wollte. Dieser Brief hier hätte ihm das Leben gerettet, aber ich habe ihn nie gesehen, weil ihn jemand, wahrscheinlich du oder Dad, vor mir versteckt hat!«
    »Das ist zu viel für mich. Ich bin krank, Sonia. Du bringst mich um, wenn du so weitermachst.«
    Wir schweigen lange. Aus dem Auge meiner Mutter stiehlt sich eine Träne und rinnt ihre Wange hinunter. Das Rouge verläuft. Einen schrecklichen Moment lang glaube ich, sie würde Blut weinen.
    »Ich wäre mit Mark in der Jolle rübergefahren«, flüstere ich eindringlicher. Mich durchströmt plötzlich wie ein Rausch das Gefühl, man hätte mir Unrecht getan. Ich wäre nicht allein an Sebs schrecklichem Tod schuld gewesen, wie ich immer geglaubt habe. »Seb würde noch leben.«
    Schlagartig werden mir die Konsequenzen klar, bis weit in die Zukunft hinein.
    Meine Mutter scheint vor meinen Augen zu schrumpfen, sie sinkt unter der Krankenhausdecke in sich zusammen, als bestünde ihr Körper aus Papier. Jetzt erkenne ich, dass sie mit mir nie über irgendetwas richtig geredet hat. Sie drückt sich und weicht aus und zitiert Gedichte, aber sie sagt nie, was sie meint.
    »Du hast ihn weggeschickt. Dann hast du seine Briefe gestohlen. Dabei hättest du mit mir reden können. Mit uns beiden.«
    Meine Mutter sieht mich unverwandt an, sie ist entschlossen, einen Teil ihrer Autorität zurückzuerlangen, und greift auf ihre Rolle als spröde Lehrerin zurück.
    »Wie hätte ich über so etwas reden sollen? Es war eine Schande, wie bei den Tieren!«
    »Wir waren Kinder , Mutter.«
    »Ich habe es versucht, Sonia. Ich habe versucht, euch davon abzuhalten. Als ich es gemerkt habe, habe ich Jasmine mit nach Hause gebracht. Hast du das vergessen?«
    Das überhöre ich. Sie weiß, was passiert ist. Als sie Jasmine ins Spiel gebracht hat, war es schon zu spät.
    Plötzlich setzt sie sich auf, macht ein

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