Ich bin da noch mal hin
hoffentlich ankomme, der hospitalero durch den Schlafsack in die Zehen gezwickt, um mich aufzuwecken. Als ich zu mir kam, hatten alle anderen Pilger die Herberge bereits verlassen. Damals war ich am zweiten Tag meines Camino als Letzte aufgebrochen, und so war es bis zum Schluss geblieben.
»Ich werde als Letzte in Santiago de Compostela ankommen«, hatte ich dem hospitalero erklärt und versucht, ihm nicht im Weg zu stehen, denn er schwang bereits den Besen, während ich noch hektisch meinen Rucksack packte.
»Oh nein«, hatte er überzeugt geantwortet. »Es kommt immer noch jemand nach dir. Immer.«
Diese Erinnerung spornt mich an, und ich winke meinen Landsleuten zu, die zurückwinken. Ich bin eine richtige Radfahrerin! Auf dem Weg zum Bahnhof werde ich immer optimistischer. Und dort gibt es gute Neuigkeiten: Der Bus um 11 Uhr 47, der den ausgefallenen Zug nach Saint-Jean-Pied-de-Port ersetzt, nimmt auch Fahrräder mit. Wäre da nicht die Glasscheibe zwischen dem Fahrkartenverkäufer und mir, ich würde ihn küssen. Seit meiner Abreise aus England hatte mir der Gedanke, es könnte vielleicht keinen Fahrradtransport nach Saint-Jean geben, keine Ruhe gelassen. Bis jetzt, um 10 Uhr 20 am Bahnhof von Bayonne, klappt alles, einfach alles.
Ich gehe durch die Bahnhofshalle zum Café, wo eine junge Frau allein sitzt und in ihrem Notizbuch liest. Ihre kurzen grauen Wollsocken sind ordentlich über den Rand der Wanderstiefel geschlagen, die farblich mit ihrer braunen Fleecejacke harmonieren. Voller Neid betrachte ich ihren Rucksack, der an der Wand lehnt. Ein Gepäckstück. Mehr hat sie nicht dabei.
Die Schlagzeile der Le Monde am Kiosk lautet »Berlin. Madrid. Paris. Europe à l’heure de la rigueur« und erinnert mich an die Wirtschaftskrise, die uns alle betrifft. Welchen Einfluss dasauf meine Reise haben könnte, kann ich nicht voraussehen, aber ich nehme an, dass ich mich auf dem Camino von weltlichen Problemen abgeschottet fühlen werde. Auf jeden Fall aber von den politischen Angelegenheiten, die Europa bewegen. Dem Alltagsleben den Rücken zu kehren, liegt natürlich im Wesen des Camino. Ich hoffe allerdings, dass dies nicht für die Fußballweltmeisterschaft gilt. Das Titelblatt der wöchentlich erscheinenden Fernsehzeitschrift verkündet: »Die WM-Spieler mit dem größten Sex-Appeal.« Daneben prangen Fotos von Yoann Gourcuff (Frankreich), Roque Santa Cruz (Paraguay) und Cristiano Ronaldo (Portugal). Mir fällt auf, dass Gourcuffs Wimpern getuscht sind. Die Belanglosigkeit des Titelblatts ärgert mich. Sollte sich die Presse nicht mit den besten WM-Spielern befassen? Dann müssten Philipp Lahm und Lionel Messi Wimperntusche tragen. Spricht Philipp Lahm Englisch? Wahrscheinlich schon, wie alle Deutschen, außer Helmut Kohl oder Angela Merkel. Ich verbanne Philipp Lahm und Angela Merkel eine Weile aus meinem Kopf, während ich mein Fahrrad in den Gepäckraum des Busses nach Saint-Jean verfrachte und es mir auf dem vordersten Sitz bequem mache.
Vielleicht war es ungeschickt, mich ausgerechnet während der WM noch einmal auf den Jakobsweg zu machen. Wer weiß, ob ich einen Fernseher finde, wenn ein wichtiges Spiel läuft, oder ob ich überhaupt in der Lage sein werde, die beiden bedeutenden Projekte unter einen Hut zu bringen. Wenn sich nun die innere Einkehr auf einer Pilgerreise als unvereinbar mit dem trivialen Fußball erweist? Oder wenn ein spirituelles Erwachen mich von der WM ablenkt? Die WM ist, wie der Camino, überall. Man trägt sie mit sich. Ich bin nicht sicher, in welcher Tasche, aber ich habe den Guardian World Cup 2010 Guide dabei, um meine Reise mit den entscheidenden Spielen abstimmen zu können. Ich werde das Turnier in wahrhaft internationalistischem, unparteiischem Geist genießen, wo immer ich kann. Wer gewinnt, ist mir egal – ich bin jetzt eine Pilgerin.
Ja, wo werde ich wohl am Samstag sein? Mir fällt ein, dass ich mir nun doch ein paar Gedanken zum Wegverlauf machen sollte. Ich dachte, es wäre befreiend, keinen festen Plan zu haben, nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ortsein zu wollen, merke jetzt aber, dass ich so vielleicht in entscheidenden Augenblicken aufgeschmissen sein werde. Ich will nicht gerade durch Weizenfelder radeln, während England im WM-Halbfinale Deutschland beim Elfmeterschießen besiegt. 2001 hatte ich Daten und Entfernungen gänzlich ignoriert, und offenbar habe ich mich in dieser Hinsicht kaum geändert. Vor neun Jahren folgte ich einfach nur
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