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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
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ich umblättere, habe ich die Höhenprofile der nächsten siebzehn Etappen von Carrión nach Santiago vor Augen. Sechs der Linien sind flach, zwei gehen bergab und die übrigen neun ziehen sich ungleichmäßig auf- und abwärts. Von vierunddreißig Etappen gibt es auf dem Camino geschätzte zwölf ohne Steigung. Das kann doch nicht wahr sein. Hat man den Camino verlegt? Dieses Blatt habe ich vor neun Jahren nicht bekommen, und ehrlich gesagt möchte ich es jetzt auch nicht haben. Von der Tour 2001 sind mir vor allem drei Dinge im Gedächtnis geblieben: flache Landschaft, brütende Hitze und Weizen ohne Ende. Klar, ich weiß noch, wie ich mich im Nebel nach Roncesvalles hinaufgekämpft habe und dass es in Galicien, schon in der Nähe von Santiago, ein paar grüne Hügel gab. Aber mit den Jahren hat mein Gedächtnis den Camino auf eine monotone Getreidewüste zusammengeschrumpft. Wenn Freunde in England mich fragen, wie der Camino ist – was selten genug vorkommt –, reduziere ich die Erfahrung auf: »Es ist eine lange Wanderung durch ein heißes, brettebenes Weizenfeld. Wenn du tolle Landschaften sehen willst, fahr nach Nepal.« Auf diesen Profilen sieht es allerdings aus, als wäre der Camino in Nepal.
    Um nicht sofort meinen offenkundigen Gedächtnisverlust ergründen zu müssen, lege ich Wims nächstes Blatt (eine Listealler Herbergen entlang des Camino) beiseite und studiere meine eigenen Listen. Ich sehe, dass ich beide Packtaschen öffnen muss, um aus Tasche 1 ein frisches T-Shirt und aus Tasche 2 saubere Unterwäsche zu holen. In Tasche 2 kann ich gleich auch noch meinen Schlafsack und das Seideninlet dazu suchen, die Sandalen hingegen wieder in Tasche 1. Die Auspackerei ist erst abgeschlossen, als ich aus Tasche 2 meinen Kulturbeutel gekramt und alles, was ich jetzt herausgefischt habe, in eine Plastiktüte gesteckt habe. Und das ab jetzt jeden Tag? Ich will doch nur mal duschen.
    Die Sonne und der leichte Wind auf meiner Haut hellen meine Stimmung auf, als ich meine frisch gewaschenen Klamotten im Garten auf die Leine hänge. Aber ich bin immer noch ein wenig erschrocken über meine beängstigenden Erinnerungslücken zur Topografie des Camino. Seit ich hier war, sind doch erst neun Jahre vergangen, nicht neunzig. Bin ich vielleicht mit allen Ereignissen in meinem Leben so verfahren, habe ich sie zu statischen Szenen destilliert, die nur einen Bruchteil der emotionalen und sinnlichen Erfahrungen beinhalten? Wenn ich eines Tages im Sterben liege und mein Leben an mir vorüberzieht, werde ich dann unbewegte, stumme und verblasste Schwarz-Weiß-Fotos sehen statt der farbenfrohen, lauten und bewegten 3D- und HD-Filme, die jenen vergönnt sind, die ihrer Umgebung mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben? Wozu erlebe ich überhaupt etwas, wenn ich so wenig davon in Erinnerung behalte? Saint-Jean-Pied-de-Port ist eine Stadt, die in meinem Leben bereits eine wichtige Rolle gespielt hat, und doch erinnere ich mich weder an das Pilgerbüro noch an den Garten oder den Schlafsaal. Wie viel wird mir auf dem Camino überhaupt vertraut vorkommen?
    Ich gehe die Straße entlang bis zum Büro in Haus Nummer 39, um die riesige laminierte Darstellung der morgigen Route über den Cize-Pass nach Roncesvalles zu studieren, die dort an der Wand hängt. Es gibt zwei Möglichkeiten: Die traditionelle Route Napoléon steigt auf dreiundzwanzig Kilometer Länge (Luftlinie) von 163 Meter über dem Meeresspiegel in Saint-Jean-Pied-de-Port auf 1410 Meter am Col de Lepoeder an. Dannverläuft sie vier Kilometer lang bergab durch Buchenwald nach Roncesvalles, das 952 Meter über dem Meer liegt. Die Alternativroute durch das Valcarlos-Tal im Westen zähmt die Steigung durch Serpentinen, und die Straße ist geteert. Der Col de Lepoeder wird ganz vermieden, höchster Punkt ist der vergleichsweise niedrige Col d’Ibañeta. Von dort geht es in kurzer Abfahrt zum Kloster in Roncesvalles.
    Während ich mit düsterer Miene diesen Aushang studiere, gesellt sich Wim mit zwei Radfahrern zu mir, die ich bereits kenne. Es sind Mike und Ken aus Blackburn, die mir zuletzt vor dem Café in Bayonne zugewinkt haben. Ich schätze sie beide auf Ende sechzig und bin nicht überrascht, dass sie schwitzen und ihre Gesichter gerötet sind – schließlich mussten auch sie ihre Fahrräder die Kopfsteinstraße hinaufschieben.
    »Gemein, was«, kommentiere ich, »dass diese Herberge am höchsten Punkt der Straße liegt?«
    »Kannst du laut sagen«, stimmt Ken keuchend zu.

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