Ich bin da noch mal hin
den gelben Pfeilen und machte jeden Abend in einer Stadt Station, die in meinem Handbuch – »Praktischer Pilgerführer. Der Jakobsweg« von Millán Bravo Lozano – angegeben war. Dieses Mal, das ahne ich schon jetzt im Bus nach Saint-Jean-Pied-de-Port, wird es so nicht gehen, denn alles ist noch komplizierter: das Fahrrad, die Tatsache, dass ich den Weg in beide Richtungen gehe, die WM und meine Suche nach dem schwer fassbaren Sinn des Camino.
In dem baskischen Dorf Uhart-Cize, wo sich ziegelgedeckte weiße Häuser mit geschlossenen grünen und roten Fensterläden zwischen die Hügel schmiegen, tauche ich aus meinen Gedanken auf. Hügel! Als der Bus kurz darauf am Bahnhof von Saint-Jean-Pied-de-Port eintrifft, realisiere ich, dass ich morgen über diese Hügel (oder mindestens einen davon) radeln werde. Ich hole mein Fahrrad aus dem Gepäckraum und schiebe es zur nächsten Bank, wo ein österreichischer Radfahrer gerade sein Gefährt aus einer Kartonschachtel befreit.
»Hallo!«, sagt er und sieht mir dabei zu, wie ich meine Packtaschen auf die Bank fallen lasse. »Fährst du nach Santiago?«
»Ja«, entgegne ich verwundert – wo sonst sollte man von hier aus hinfahren?
»Den ganzen Weg?«
»Ja, hin und zurück. Und du?«
»Auch den ganzen Weg, mit meinem Mountainbike, auf dem Weg der Wanderer.«
»Ich auch!«, sage ich und denke mir, ja und? Klar, auf dem Weg der Wanderer. Wo sonst? Wer würde als Radler schon auf den Gedanken kommen, auf der Straße zu fahren? Ich bestimmt nicht.
Er bittet mich, kurz auf sein Fahrrad aufzupassen, während er sich an der Tankstelle die Hände wäscht. Aber ich kann keinFahrrad erkennen, denn es ist noch nicht fertig zusammengebaut. Also betrachte ich den Rahmen, die Räder, die Pedale und den Sattel, die am Boden verstreut liegen. Bis er zurückkommt, habe ich mein eigenes Fahrrad beladen und bin bereit für die ersten Meter auf dem Camino.
»¡Buen Camino!«, wünscht mir der Österreicher zum Abschied.
»¡Buen Camino!«, gebe ich zurück – zum ersten Mal spreche ich den Gruß aus, den wir Pilger uns unterwegs entbieten.
Ich stelle fest, dass die Schaltung einwandfrei funktioniert, als ich den steilen Hügel vom Bahnhof ins Stadtzentrum hinaufstrample. Ich schalte einmal durch alle Gänge und halte den Atem an: Wird die Kette in den leichtesten Gang wechseln, ohne abzuspringen? Ja! Trotzdem muss ich auf dem Kopfsteinpflaster unter dem Bogen, der in die Altstadt führt, absteigen. Pilger mit Rucksäcken schreiten auf der ansteigenden Rue de la Citadelle mit großen Schritten an mir vorbei, und Touristen mit lässig über die Schulter gehängten Pullovern ignorieren mich – die Schaufenster der Souvenirläden sind einfach interessanter. Das städtische Pilgerbüro befindet sich nur wenige Meter unterhalb vom höchsten Punkt des Hügels. Warum liegt es ganz oben? Wie sollen Radfahrer da hinaufgelangen? Vielleicht ist das Befahren des Camino so wenig herausfordernd, dass zusätzliche Hindernisse notwendig sind, um die Leidensschwelle zu erreichen, die Voraussetzung für eine innere Wandlung ist?
Mit einigen Schwierigkeiten lehne ich das schwere Fahrrad an die Mauer des Gebäudes, in dem sich das Büro befindet. Die Sohlen meiner Doc Martens rutschen auf dem blanken Pflaster. Drinnen im Büro, einem großen Raum, den ich nicht wiedererkenne, kann ich besser gehen. Zur Linken stehen einige Tische, hinter denen vier Freiwillige sitzen, ihnen gegenüber jeweils ein Pilger. Zwei junge Pilger erheben sich, jeder einen Stapel Papiere, ein credencial und eine weiße Muschel in der Hand. Ich setze mich an einen der frei gewordenen Tische und reiche Wim aus den Niederlanden meinen britischen Pass. Nachdem er meinen Namen und meine Nationalität in sein Register eingetragen hat und ich acht Euro bezahlt habe, übergibt er mir eine orangefarbene Karte, der ich entnehme, dass ich heute Nacht das Bett 112 habe. 112? Das hat mir gerade noch gefehlt! Über hundert Schläfer in einem einzigen Raum. Nach einer schlaflosen Nacht in einem stickigen Schlafsaal voller Pilger, die unruhig ihrem ersten Tag auf dem Camino entgegenfiebern, wird der Col de Lepoeder morgen noch schwerer zu bezwingen sein.
Wim reicht mir einen nagelneuen Pilgerausweis – eine weiße Karte mit der Aufschrift » CARNET DE PÈLERIN DE SAINT-JACQUES Credencial del Peregrino« und dem fett aufgedruckten Umriss einer Muschel. Der Ausweis lässt sich wie ein Akkordeon auseinanderziehen. Dann hat man sieben
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