Ich bin da noch mal hin
»Schrecklich.«
»Ihr kommt spät. Welchen Bus habt ihr in Bayonne genommen?«, frage ich.
»Bus? Wir sind hergeradelt und gerade angekommen.«
Ich bin sprachlos. Diese beiden Rentner haben Hügel und Kurven der Pyrenäenausläufer durchradelt, während ich im Bus an Philipp Lahm gedacht habe. Und zudem muss ich mich jetzt, unmittelbar vor Antritt meiner Reise, mit der Erkenntnis herumschlagen, dass ich morgen nicht die Route Napoléon nehmen kann. Die ersten achtzehn Kilometer wären kein Problem, denn der Abschnitt bis zum Steinmännchen auf 1350 Meter verläuft auf der Straße. Aber wird der anschließende Fußweg nach dem Regen gestern nicht zu aufgeweicht sein, um die restlichen fünf Kilometer bis zum Col de Lepoeder hinaufzuradeln? Und dann bergab durch den Buchenwald … Ich wende mich Rat suchend an Wim.
»Wim, ich sollte wahrscheinlich die Valcarlos-Route nehmen, oder?«
»Natürlich! Du bist ja mit dem Fahrrad unterwegs!«
Ken und Mike stehen immer noch hinter mir und studieren eingehend die Karte.
»Nehmt ihr auch die Valcarlos?«, frage ich, um Zustimmung fast schon bettelnd.
»Na klar. Da kommt man mit dem Rad nicht rauf«, erwidert Mike mit einer Kopfbewegung zur Route Napoléon hin.
Ich sehe ihn dankbar an und atme tief durch. Diese strammen Radler fahren morgen den gleichen Weg wie ich. Nein, es ist keine Niederlage, wenn wir den Col de Lepoeder umfahren, schließlich heißt es doch in dem mittelalterlichen Pilgerhandbuch »Codex Calixtinus« über so manchen Gipfel, er sei »… so hoch, dass jene, die hier heraufsteigen, den Himmel zu berühren glauben«. Wir nehmen also die Alternativroute durch das Valcarlos-Tal, »… die man nimmt, um die Bergbesteigung zu vermeiden.« Das einzig Vernünftige für Radpilger, die es im Mittelalter natürlich nicht gab und die es, so fürchte ich, vielleicht auch heute nicht geben sollte.
Wim führt mich zum Supermarkt, wo ich belegte Brötchen und Bananen für unterwegs kaufe. Im Ausrüstungsladen nebenan steht das britische Pärchen aus meinem Schlafsaal und schwingt Golfschläger, wie mir scheint. Alle Achtung! Es ist sehr löblich, Aspekte des Alltagslebens in den Camino zu integrieren, damit sich der Pilger nicht in Frömmelei verliert. Ich will ja schließlich auch verfolgen, wie sich England in der WM schlägt. Ich gehe hinein, um mich Alison und Ian vorzustellen, die zwischen schnell trocknenden Shorts und Wollsocken in Wirklichkeit mit Graphit-Wanderstöcken herumfuchteln.
»Sieht aus, als würde das morgen ein ziemlich harter Aufstieg, vom Abstieg ganz zu schweigen, darum werden wir uns so was zulegen müssen. In Frankreich war es immer flach, da haben wir keine gebraucht«, erklärt Alison.
»Ja, ich hab in Frankreich auch keinen Stock gebraucht. Ich saß im Bus«, versuche ich zu scherzen. »Heißt das, dass ihr schon durch Frankreich gewandert seid?«
»Ja, wir sind sogar in England gestartet, dann rüber mit der Fähre von Portsmouth nach Caen und weiter durch Frankreich«, erzählt Ian.
»Von wo aus in England?«, frage ich.
»Von unserem Haus in Surrey aus«, entgegnet Alison lächelnd. Ihr Gesicht ist rosarot wie ein Macintosh-Apfel. Nichtzum ersten Mal am heutigen Tag nötigen mir Landsleute Hochachtung ab. Ich bin noch nicht einmal gestartet und fühle mich bereits von Pilgern gedemütigt, die viel mehr hinter sich haben, als ich noch vor mir habe.
Es kommt immer noch jemand nach dir. Immer.
Schon jetzt offenbart mir der Camino etliche universelle Wahrheiten. Dass immer jemand vor uns sein wird. Dass immer jemand hinter uns sein wird. Wie sollen wir damit umgehen?
»Großartig! Und was führt euch hierher?«
Da bemerke ich das Kreuz, das Alison an einer Kette um den Hals trägt.
»Aha! Ihr macht den Weg aus religiösen Gründen?«
Wie sich herausstellt, sind Alison und Ian gläubige Katholiken, die schon oft mit einem Holzkreuz auf dem Rücken nach Walsingham in England gepilgert sind, wo 1061 die Jungfrau Maria Richeldis de Faverches befohlen hatte, eine Nachbildung des Hauses der Heiligen Familie in Nazareth zu erbauen.
»Glaubt ihr denn wirklich, dass in Santiago die sterblichen Überreste des heiligen Jakob liegen?«, erkundige ich mich.
»Na ja, wäre doch möglich, oder?«, antwortet Ian nachdenklich.
»Hm. Da kenne ich mich, ehrlich gesagt, nicht aus. Ich bin den Weg schon mal gegangen, vor neun Jahren. Als ich nach all der Lauferei in Santiago ankam, war ich bereit, alles zu glauben. Ich hatte mich mit einem
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