Ich bin dann mal alt

Was danach kommt? Keine Ahnung – da mache ich mir keine Gedanken. Im Himmel werden auch nicht immer die Engel singen.
    Lindenwirtin Josefine Wagner
    Wann beginnt im ganz normalen Leben ein neuer Tag? Die Benediktinermönche haben darauf seit 1500 Jahren eine gute Antwort: am Abend vorher. Da wird der alte Tag in Frieden abgeschlossen, man kommt zur Ruhe – und weiß, dass es einen neuen Morgen gibt. Viele Menschen zögern die Nachtruhe hinaus, weil sie offensichtlich den alten Tag nicht abschließen wollen oder können. Wahrscheinlich spüren sie unbewusst, dass sie tagsüber zu wenig Wertvolles erlebt haben, und hoffen, dass ihnen das nächtliche Zappen durch die Fernsehsender doch noch etwas bringt.
    Nicht jeder Tag kann zu einem Glanzlicht werden – und trotzdem sollen wir ihn achten, auch in der Zuversicht, dass morgen etwas Neues beginnt. Natürlich weiß jeder, dass der nächste Tag zwar wieder Ärger und Scherereien bringen wird, aber auch Schönes und Harmonisches. Es hat keinen Sinn, die vielen ungelösten Probleme mit in den nächtlichen Schlaf zu nehmen, weil dann der Tag keinen friedlichen Abschluss findet. Gläubige Menschen legen den alten Tag mit all seinen Schwierigkeiten in die Hände Gottes.
    Auch dafür eignen sich Bilder: Am Ende eines Tages blickt der Mensch nicht auf die Sorgen und Schwierigkeiten von morgen, sondern er schaut mit Gelassenheit in die untergehende Abendsonne. Das kann ganz realistisch hinterm Haus auf der Bank geschehen oder – übertragen – aufs Leben. Dann ist es ein
Blick auf die beginnende Nacht, die dem Menschen Ruhe gibt, ihm Frieden schenkt und Erlösung bringt. Diese Haltung entwickelt sich nicht von selbst, sondern muss im Laufe des Lebens immer wieder eingeübt werden durch eine Spiritualität, die bewusst Grenzen überschreitet und den Menschen innerlich wie äußerlich in Bewegung bringt. Dann kann jene heitere Gelassenheit entstehen, von der alle Religionen und Weisheitslehren berichten – und die wohl das größte Geschenk ist, das ein Mensch im Alter bekommen kann.

Copyright © 2011 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
    eISBN 978-3-641-06203-3
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