Ich bin dein, du bist mein
er böse Worte aus. Sie treffen den Jungen härter als eine Faust. Und dann kommt der Stock. Und manchmal der Gürtel.
Doch eines Abends schlägt der Junge zurück – mit Worten. Denn auch er hat böse Worte. In dieser Nacht hat er Angst um sein Leben. Aber er wird nicht davonlaufen. Niemals. Er weiß: Wenn er jetzt aufgibt, wird der Vater ihn umbringen, wie er auch die Mutter ins Grab gebracht hat.
Also stellt er sich ihm in den Weg, weicht nicht von der Stelle, obwohl seine Knie zittern und er sich beinahe in die Hosen macht.
Doch zu seinem Erstaunen wird die dröhnende Stimme seines Vaters immer heiserer. Der Vater greift nach dem Messer neben seinem Teller, doch es fällt ihm aus der schlaffen Hand. Die Adern an seinen Schläfen treten wulstig hervor. Er brüllt Worte, die wahrscheinlich noch nicht einmal er selbst versteht.
Da knickt auf einmal sein rechtes Bein ein und er sackt in sich zusammen. Hilflos bleibt er auf dem Boden liegen. Der Junge beugte sich vorsichtig zu ihm hinab. Auf der einen Seite hängt der Mundwinkel schlaff herunter, ebenso Wange und Augenlider. Die Worte des Vaters sind jetzt nur noch einkraftloses Krächzen, das schließlich zu einem Stöhnen wird. Der Junge holt sich einen Stuhl und setzt sich zu ihm.
Es dauert die ganze Nacht.
Erst am Morgen ruft er einen Arzt, der den Tod feststellt.
Für Judith war es eine bittere Heimkehr. Wie sollte sie sich in ihren eigenen vier Wänden je wieder sicher fühlen? Der alte Läufer im Flur war natürlich nicht mehr da. Die Reinigung hatte das Blut nicht entfernen können.
Zartfühlenderweise, doch gegen das Gesetz, hatte Robert Zerberus im Garten neben dem Johannisbeerstrauch beigesetzt und die Stelle mit einem weißen Stein markiert, damit Judith nun von ihm Abschied nehmen konnte.
Die Polizei hatte noch immer keine Spur von Gabriel. Sein Phantombild war zwar mit den riesigen Datenbanken von POLAS , CRIME und KOYOTE , die alle Straftäter und Flüchtigen enthielt, abgeglichen worden, aber Gabriels Profil hatte auf niemanden so richtig gepasst.
Judith war krankgeschrieben und von der Schule beurlaubt, was natürlich hieß, dass sie den Abschluss dieses Jahr nicht schaffen würde. Aber das war ihr inzwischen egal. Sie interessierte sich für nichts mehr. Ihre Erschöpfung war nicht nur körperlich. Ganze Tage verbrachte sie grübelnd im Bett.
Gabriel war tatsächlich verstummt. Seit dem Tod ihres Hundes hatte sie keine SMS , keine Mail, keinen Brief und keinen Anruf mehr von ihm erhalten. Auf Skype blieb er offline. Ihre Mutter zeigte sich darüber natürlich erleichtert. Sie schien voller Hoffnung, dass ihre Tochter bald wieder in einen geregelten Alltag zurückkehren würde. Judith war sich da leider nicht so sicher.
Sie hatte Tabletten verschrieben bekommen, hauptsächlich Beruhigungsmittel und leichte Angstlöser, die ihre volle Wirkung nicht sofort entfalteten. Bis dahin musste sie die Schwärze, die sie erfüllte, aus eigener Kraft niederringen – was ihr nicht immer gelang. In manchen langen Nächten dachte sie darüber nach, was geschähe, wenn sie die Pillendosis eigenmächtig erhöhen würde. Sie vielleicht alle auf einmal nahm. Die Vorstellung, abends einzuschlafen und dann nicht mehr aufzuwachen, war süß und verlockend. Nur wenn sie schlief, war sie nicht mehr von dieser Leere erfüllt, die aus ihrem Körper eine verletzliche, papierdünne Hülle machte.
Niels und Kim waren die Einzigen, die in diesen dunklen Wochen nicht von ihrer Seite wichen, obwohl Judith kaum ein Wort sprach und die meiste Zeit nur still weinte. Die Sorge der anderen führte dazu, dass sie sich immerweiter in sich zurückzog. Alles war ihr eine Last. Selbst die Anwesenheit ihrer besten Freunde.
An einem jener gleichförmigen Tage, an denen die Angst wie ein Bleigewicht auf ihr lastete, erhielt sie Besuch, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
Ihre Mutter klopfte leise an die Zimmertür. »Judith?«
Sie drehte sich im Bett zur Wand und zog sich die Decke über den Kopf.
Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. »Da ist jemand für dich.«
Judith hörte schwere Stiefelschritte auf den Dielen. Es wurde etwas geflüstert, dann schloss jemand die Tür. Die Schritte näherten sich dem Bett. Judith hörte, wie die Pneumatik des Schreibtischstuhls zischend gegen ein schweres Gewicht protestierte.
Stille. Judith drehte sich nicht um.
Schließlich sagte eine tiefe Stimme: »Na, Mädchen? Hast du die weiße Fahne geschwenkt?«
»Geh weg«, sagte sie
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