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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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Antwort gewesen war.
    «Sie sind keine
Häftlinge
», erklärte der Doktorand mit demonstrativer Geduld. «Sie sind
Patienten
. Ein Häftling wird für das Unrecht bestraft, das er begangen hat. Ein Patient muss therapiert werden, weil er unter einer Krankheit leidet.»
    Albrecht verdrehte die Augen. Sollte er den Jungen für sein schlichtes Weltbild bedauern oder ihn im Gegenteil bewundern?
    Doch er sah, dass sich Friedrichs’ Griff um das Steuer verstärkt hatte.
    Sie hatte ihm nicht glauben wollen.
    Welcome to the real world
, dachte er.
    ***
    Jörg Albrechts Ansichten konnten seiner Umgebung ziemlich auf den Senkel gehen, und das wusste er.
    Aber das hatte unseren Herrn und Meister noch nie daran gehindert, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu äußern.
    Es gab maximal ein, zwei Themenfelder, bei denen wir einer Meinung waren. Wenigstens die Todesstrafe lehnte er ab.
    Doch sonst? Der Mann war ein Genie als Ermittler, aber seine Vorstellungen von Recht und Unrecht, davon, wie die Welt funktionierte, waren irgendwo in den Fünfzigern stehengeblieben.
    Und ich hasste es, wenn er recht hatte.
    Doch zu diesem Zeitpunkt war ich sowieso schon dermaßen auf der Palme, dass für irgendwas anderes nicht mehr viel Platz war.
    Schließlich hatte ich soeben begriffen, wohin wir unterwegs waren, jetzt, sofort, heute Nachmittag: nach Braunschweig und anschließend, nachdem wir mit dieser Frau gesprochen hatten, die offenbar
nicht
Wolczyks Freundin war, vielleicht weiter nach Königslutter.
    «Ich hatte vorgestern Nachtdienst», rechnete ich ihm vor. «Und den kompletten folgenden Tag. Dann eine Nacht frei. Gestern wieder den vollen Tag und abends Ihre Sonderermittlung in St. Georg …» Ich konnte mich gerade noch bremsen, ihm auf die Nase zu binden, dass ich die Nacht außer Haus verbracht hatte. «Und heute wieder den ganzen Tag! Bis wir in Braunschweig sind, ist es mindestens sechs. Wir können uns jetzt schon ausrechnen …»
    Er warf mir einen wortlosen Blick zu.
    Ich dachte an Kerstin. Ich dachte an Oliver, an den kleinen Raoul. An Sabine Hartung, ein wenig auch an die mir unbekannten Angehörigen von Möllhaus. Und selbst die Zecke musste ein Privatleben gehabt haben.
    Vor allem aber hatten diejenigen eins, die als
Nächstes
auf der Liste des Täters standen.
    Es sind genau diese Augenblicke, in denen man sich klein und mickrig vorkommt als Kriminalbulle. Die Augenblicke, in denen man in die Falle geht:
to serve and protect
, wie es beim New Yorker NYPD heißt.
    Es geht ja um Menschenleben. Und selbstverständlich hat ein Polizist in so einem Moment kein Privatleben zu haben.
    Das Dumme ist, dass dieser Moment um die vierzig, fünfundvierzig Jahre anhalten kann, wenn man sich entscheidet, diesen Job zu machen.
    Ich fuhr an der ersten Raststätte hinter dem Horster Dreieck ab, ohne das Manöver zu kommentieren, und beobachtete, wie Albrecht in Richtung des Restaurants und der WC s trottete.
    Dann wählte ich den Geschäftsanschluss meines Ehemanns.
    «Gunthermann und Friedrichs Immobilienberatung, Dennis Friedrichs.»
    «Hi», murmelte ich.
    Ein
Hi
, das sich nicht anhörte, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ein
Hi
, das nach schlechtem Gewissen klang.
    Ein ‹Ich hab mit Joachim Merz geschlafen, weiß aber nicht so recht, was ich davon halte›-Hi.
    «Hi … Hannah!»
    Brauchte er tatsächlich einen Moment, um sich an den Namen seiner eigenen Ehefrau zu erinnern?
    Meine Stimmung kippte auf der Stelle.
    «Wo hast du gestern gesteckt?»
    «Was war denn gestern Abend los?»
    Beide gleichzeitig.
    Ich biss die Zähne zusammen. Schweigen.
    «Das Meeting hat ziemlich lange gedauert», sagte er schließlich. «Du warst gar nicht zu Hause. Wieder Nachtschicht?»
    Hatte die Frage einen verdächtigen Unterton?
    «Dasselbe wie immer», murmelte ich.
    Schweigen. Fünf Cent für seine Gedanken.
    «Also …» Ich stieß den Atem aus. «Ich wollte dir nur Bescheid sagen: Wie es aussieht, sind wir gerade unterwegs nach Braunschweig.»
    «Braun…» Er verschluckte sich. «Wer sind
wir
? Was willst du in Braunschweig?»
    Wer seid ihr
, dachte ich. Aus deiner Perspektive.
    «Es geht doch nicht um diesen Professor, den sie lebendig begraben haben?», schob er nach. «Diesen … Müller?»
    Ich zwinkerte – doch im selben Moment meldete sich das Funkgerät, und ich erkannte das Rufzeichen des Reviers.
    Überflüssig ranzugehen.
    Die niedersächsischen Kollegen hatten Professor Möllhaus’ Tod, so lange sie konnten, unter

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