Ich bin der Herr deiner Angst
war, keine Frage. «Tut mir leid», sagte sie. «Ich habe Ihnen nichts versprochen, Hauptkommissar.»
Albrecht trat zwei Schritte näher, spürte Friedrichs hinter sich.
«Hauptkommissar Wolfram?», fragte er mit erhobener Stimme. «Hier ist Jörg Albrecht von der Hamburger Kripo. Meine Kollegin und ich würden uns gerne mit Ihnen unterhalten.»
Schweigen. Eine Sekunde lang glaubte er, dass sich die zerschlissenen orangeroten Vorhänge eine Winzigkeit bewegten, doch das blieb die einzige Reaktion.
«Haben Sie ihm gesagt, warum wir hier sind?», wandte er sich an seine Sekretärin.
Wegner deutete auf eine Satellitenschüssel am rückwärtigen Teil des Wohnmobils. «Das war nicht nötig.»
Albrecht nickte knapp.
«Hauptkommissar Wolfram, ich würde Sie wirklich nicht belästigen, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass Sie mir wichtige Hinweise zu meiner laufenden Ermittlung geben können.» Er wartete.
Schweigen.
«Ist er immer so … scheu?», fragte Friedrichs leise.
«Sie haben keine Vorstellung, wie er ist», murmelte die dicke Frau. «Horst?», fragte sie lauter. «Wir gehen jetzt wieder.»
«Aber …» Die Kommissarin.
Albrecht brachte sie mit einem Blick zum Schweigen.
«Irmtraud», wandte er sich an die Sekretärin. «Ihnen ist klar, dass ich diesen Mann notfalls vorführen lassen kann.»
«Mir ist klar, dass Sie das nicht tun werden», zischte sie. «Aber wenn Sie darauf verzichten, wird er vielleicht …»
«Nach dem nächsten Mord?», fragte Friedrichs leise. «Oder wann genau?»
Wegner warf ihr einen Blick zu, aus dem vieles sprach. Enttäuschung, unterdrückte Wut. Sicher auch eine Spur Verständnis.
Die war allerdings am schwächsten zu spüren.
Albrecht betrachtete die geschlossene Tür. Rost überall. Nur die Angeln blitzten sauber.
Er hatte heute schon eine Tür aufgebrochen, und die Hüfte tat ihm immer noch weh.
Doch ihm war klar, dass das keine Alternative war.
«Wir können nichts machen», murmelte er. «Von Gefahr im Verzug kann nicht die Rede sein. Nicht hier.»
Er schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Es gab noch eine Möglichkeit, doch alles in ihm wehrte sich dagegen.
In dieser Blechkiste sitzt der Mann, der ich sein könnte, dachte er. Ich bin nur einen Schritt davon entfernt. Eine winzige, unsichtbare Linie.
Doch durfte das seine Entscheidung bestimmen?
Er holte Luft. «Nein», sagte er. «Es hat keinen Sinn.» Dann, beiläufig, nur eine Spur lauter:
«Und wir haben immer noch Freiligrath.»
Ein Laut aus dem Innern, unbestimmbar, unmöglich in Worte zu fassen. Kein menschliches Wesen.
Keines, das bei Verstand war.
Albrecht hielt den Atem an. Seine letzte und einzige Trumpfkarte …
Zehn Sekunden, zwanzig.
Kein Lebenszeichen mehr.
Irmtraud Wegner sah ihn an, und er wollte sich krümmen unter diesem Blick. Er hatte es versuchen müssen, das musste ihr klar sein.
Doch das änderte nichts.
«Ich wünsche Ihnen gute Fahrt», sagte die dicke Frau und ließ dabei keinerlei Gefühlsregung erkennen. «Ich nehme den Bus.»
***
Gewogen, dachte Jörg Albrecht. Gewogen und für zu leicht befunden.
Natürlich wusste er, dass das Unsinn war. Er hatte keine Alternative gehabt.
Doch ihm war klar, dass das Geräusch, das aus dem Innern des Blechkastens gekommen war, ihn bis zum Tag seines Todes verfolgen würde.
Er saß jetzt auf dem Beifahrersitz, während Friedrichs den Wagen zurück in Richtung Autobahn lenkte.
Hatte es wirklich keine Alternative gegeben?
Oder machte ihm lediglich der Umstand zu schaffen, dass er vor der Alternative größere Angst hatte, als er sich eingestehen mochte?
Freiligrath.
Wenn sich Wolfram einer Zusammenarbeit verweigerte, blieb ihnen keine andere Wahl.
Sie mussten mit dem Traumfänger sprechen, so schnell wie möglich.
Ein säuerlicher Geschmack stieg in Albrechts Kehle auf, wenn er sich vorstellte, dem Mann zu begegnen, der Horst Wolframs Leben mit gefletschten Zähnen in Stücke gerissen hatte.
Dieser Mann war gefährlich. Und eine innere Stimme sagte Jörg Albrecht, dass es keinerlei Rolle spielte, dass Freiligrath seit einem halben Leben in Haft war.
Ein Schatten, dachte der Hauptkommissar. Ein Schatten, der darauf lauerte, die Grenze zwischen den Welten zu überschreiten.
Doch zugleich hatte er keinerlei Zweifel, dass sich der Fall tatsächlich auf dem Weg über den Traumfänger klären ließ. Ganz bewusst hatte ihnen der Täter diese Information gegeben.
Doch es war ein vergiftetes Geschenk.
Albrecht
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