Ich bin der Herr deiner Angst
festgehalten, weil sie etwas verbrochen haben, sondern auf den Verdacht hin, dass sie sich etwas Neues zuschulden kommen lassen könnten. Sie erbringen ein Sonderopfer für die Allgemeinheit. So schimpft sich das:
Sonderopfer
. Die reinsten Märtyrer! Diese Leute sitzen gemütlich in psychiatrischen Kliniken, mit einem Dutzend hochbezahlter Psychoklempner, die versuchen, Leute zu therapieren, von denen die ganze Welt weiß, dass sie eben nicht therapierbar sind. Was denken Sie, was die für Freudensprünge machen, wenn wir mit der Anfrage kommen, mit einem ihrer Schutzbefohlenen ein paar Takte über seine alten Morde zu reden?»
«Sie werden nicht begeistert sein», murmelte die Kommissarin.
«Sie werden versuchen, die Anfrage abzubügeln», prophezeite Albrecht. «Sie zu verschleppen, nach hinten zu schieben, uns von Pontius zu Pilatus zu jagen. Wie lange, was denken Sie? In Morden ausgedrückt? Drei? Vier? Fünf?»
«Ich habe verstanden», sagte Friedrichs plötzlich scharf. «Und?»
«Timing», erklärte Albrecht. «Unser Mörder hat uns einen Hinweis gegeben. Max Freiligrath: damals der Täter, und heute? Warum weist unser Täter auf ihn? Ich hatte die Hoffnung, dass Horst Wolfram uns das vielleicht sagen könnte, doch Wolfram verweigert sich. Damit bleibt uns nur ein Weg: Freiligrath selbst. Ein Zeuge, der uns entscheidend weiterbringen, uns vielleicht sogar den Namen des Täters liefern könnte. Aber wir kommen nicht an ihn ran, weil unser eigenes Rechtssystem ihn schützt. Wieder haben wir eine entscheidende Information bekommen. Und wieder können wir nichts mit ihr anfangen – bis es zu spät ist.» Er holte Luft. «Das zumindest glaubt unser Täter.»
Fragend sah Friedrichs ihn an.
Albrecht stellte fest, dass seine Hand feucht war, als er sie in die Hosentasche gleiten ließ und nach dem Kärtchen suchte, das er am Vorabend eher beiläufig eingesteckt hatte.
Dipl. Psych. Jonas M. F. Wolczyk
, Institutsadresse, Privatadresse, Handynummer, E-Mail – und ein halbes Dutzend weiterer elektronischer Möglichkeiten, den Kontakt herzustellen.
Wolczyk hatte dem Hauptkommissar nahegelegt, sich per Mail zu melden. Natürlich, er wartete auf die Phantombilder, wollte sehen, ob der Täter ein klassisches Würgerkinn hatte oder eine Messerstechernase. Ob ihm die Gier nach Jungfrauenblut aus den Augen guckte.
Albrecht tippte die Festnetznummer in sein Handy.
Mit Sicherheit war der junge Mann heute nicht in der Uni. Sein Doktorvater war tot – Albrecht hatte keine Ahnung, wie in solchen Fällen verfahren wurde. Scherereien und Verzögerungen waren vermutlich vorprogrammiert. Und so oder so würde der Junge kaum in der Stimmung sein …
«Ja?» Die Stimme klang fragend, schwankend.
Verständlich. Albrecht hatte die Visitenkarte zwar angenommen, aber kein Gegenstück rausgerückt. Wolczyk konnte seine Nummer nicht kennen.
«Hauptkommissar Jörg Albrecht», sagte er. «Ich hoffe, ich …»
«Klar!» Die Stimme war sofort verändert. «Klar, ich hab schon gehört, Sie haben noch einen Toten! Also eine Tote. Diese Fernsehfrau. Kanal Sieben, nicht wahr? Nein. Neun, oder? Neun, war’s, Kanal Neun. Mein Gott, die kannte ich sogar! Also aus dem Fernsehen natürlich. Haben Sie … Hat ihn diesmal jemand gesehen? Haben Sie Bilder? Ich kann Ihnen …»
«Nein.»
Albrecht legte alle Betonung in das eine Wort. Den Mann erstmal stoppen.
Am anderen Ende das Schnippen eines Feuerzeugs und ein tiefer Atemzug. Ein gemurmeltes «Mein Gott …»
«Aber möglicherweise können Sie mir trotzdem helfen», erklärte Albrecht ruhig. «Nicht Sie direkt, aber Ihre Freundin vielleicht.»
«Meine … was?»
Albrecht blinzelte, doch im nächsten Moment überkam ihn eine völlig unerwartete Trauer.
So einfach.
Sie fragen sich, ob die beiden zusammen sind?
Professor Möllhaus hatte aufgeblickt. Ein müdes, selbstironisches Lächeln.
Diese Frage stelle ich mir seit Jahren.
Und nun:
Meine … was?
Manche Antworten waren so einfach, und man suchte doch ein ganzes Leben lang vergeblich nach ihnen.
«Maja Werden», korrigierte der Hauptkommissar mit leiserer Stimme. «Ich habe das gestern doch richtig verstanden, dass Frau Werden sich mit Häftlingen beschäftigt, die sich in Sicherungsverwahrung befinden?»
Ruckartig drehte Friedrichs den Kopf in seine Richtung. Albrecht warf ihr einen bösen Blick zu, als das Fahrzeug die Bewegung mitmachte.
«Nein.»
Er brauchte zwei Sekunden, bis er begriff, dass das Wolczyks
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